Eine ehrbare Familie
das Zelt betrat. «O Gott, nein», entfuhr es ihr.
Zwanzig Patienten lagen in Reihen nebeneinander, röchelnd, nach Atem ringend, ständig in Bewegung, als wären ihre Glieder von einem schrecklichen Zucken befallen. Die Pflegerinnen brauchten einen Moment lang, um zu begreifen, daß es verzweifelte Versuche waren, Luft zu bekommen.
Die Gesichter der anderen Schwestern und der zwei diensthabenden Ärzte waren von Grauen gezeichnet. Einer, ein Captain, ungefähr in Mary Annes Alter, faßte sie am Arm. «Los, packen Sie mit an. Der hier ertrinkt in seiner eigenen Lungenflüssigkeit. Helfen Sie mir.»
Gemeinsam lehnten sie den angstgeschüttelten Mann gegen die Wand. Mary Anne stopfte ihm Decken hinter den Rücken. Sie arbeiteten eine Stunde lang, um dem Verwundeten etwas Erleichterung zu verschaffen.
Mary Anne, die andauernd fortgerufen wurde, kehrte jede freie Sekunde zu dem jungen Soldaten zurück, aber sie kämpften umsonst. Er starb gegen fünf Uhr nachmittags, als Mary Anne bei ihm saß. «Er hat noch einmal seine armen, müden Augen geöffnet, dann gelang ihm der tiefste Atemzug des ganzen Tages, er lächelte und starb», schrieb sie an Mildred. Sie schrieb nicht, daß sie seinetwegen geweint hatte. Es war das letzte Mal, daß sie für einen Toten oder Sterbenden Tränen vergoß.
Von den zwanzig Gasvergifteten, die an diesem Tag eingeliefert worden waren, starben bis auf sechs alle vor Mitternacht. Der Rest hustete und keuchte, aber blieb am Leben. Andere Verwundete wurden eingeliefert. Die Kolonne der Sanitätswagen schien kein Ende nehmen zu wollen.
Als sie endlich abgelöst wurden, gingen die drei Pflegerinnen in das kleine Eßzelt, aßen ein paar Löffel Eintopf und schwankten todmüde zu ihrem Zelt.
In der Dunkelheit hörten sie das Knirschen von Spatenstichen im Boden und wußten, daß die Truppeneinheit, die zu ihrer Sicherheit und Unterstützung abkommandiert war, draußen Gräber aushob.
Mary Anne setzte sich auf ihre Pritsche und sah Dora an. «Diese Scheißdeutschen», sagte sie. Dora nickte.
Tag reihte sich an Tag, Nacht an Nacht. Soldaten wurden eingeliefert, behandelt, weitergeschickt, behaftet mit Zetteln, auf denen Anweisungen für weitere Operationen, Behandlungsarten oder für den Rücktransport nach England vermerkt waren. Eine Menge Männer kamen und blieben, begraben in einem fremden Land.
Innerhalb von zwei Wochen war die zweite Schlacht um Ypern vorbei. Danach kämpften die Männer nur mehr um ein paar Meter Bodengewinn. Ende der ersten Woche erschien die Otter.
Er kam am Abend, er schlurfte ins Aufnahmezelt, verdreckt und mit Blut beschmiert. Er war fast nackt außer ein paar Fetzen Unterzeug und den Überresten seines rechten Stiefels.
Mary Anne hatte Dienst in der Aufnahme, und in gewisser Weise war sie schuld daran, daß alle Hinweise auf seine Identität fehlten. Sie hatte ihm seine Lumpen ausgezogen und sie in den Metallbehälter mit gebrauchten Bandagen und Verbänden geworfen, die später verbrannt wurden.
Sie säuberte ihn und stellte fest, daß er nur zwei sehr leichte Wunden hatte; eine Schramme am Kopf und eine andere am Oberschenkel. Sie mußten verbunden werden, was sie selbst tat. Er hatte den wilden, ängstlichen Tierblick derer, die unter Schock stehen. Sie versuchte, ruhig mit ihm zu reden, aber alles, was er herausbrachte, war: «Ott... Ott... Ott...» Daher gaben sie ihm den Spitznamen «Otter».
«Ein Heimatschuß, Sir?» fragte Oberschwester Price, als der Arzt ihn später am Abend untersuchte.
Er schüttelte den Kopf. «Nein, keinesfalls, wir wissen nicht einmal, ob er einer der unsrigen oder einer von den anderen ist. Am besten behalten Sie ihn einige Tage hier. Der Mann steht unter Schock, und sein Zustand könnte sich verschlimmern, wenn wir ihn verlegen.» Diese Art von Mitgefühl konnte sich eigentlich keiner von ihnen erlauben, aber der Oberarzt, ein Major, hatte gesprochen, also: keine Widerrede.
Als der Hauptverbandsplatz nach rückwärts verlegt wurde und das Pflegepersonal ins Allgemeine Krankenhaus Nr. 6 in Rouen geschickt wurde, war Otter noch immer bei ihnen - ohne Namen, ohne Identität, ohne Rang, Nummer oder Staatsangehörigkeit. Er war ungefähr Mitte Zwanzig, groß, blond, gut aussehend und ständig bemüht, jedem zu Gefallen zu sein. Er machte Botengänge, half Schwestern und Ärzten, Schwerverwundete zu heben, brachte den Tee auf die Krankenstationen, lächelte jeden an und sagte: «Ott... Ott... Ott» wie ein Papagei. Seine
Weitere Kostenlose Bücher