Eine ehrbare Familie
zusammenträte.
«Ich habe einen guten Anwalt für Sie, und natürlich findet die Verhandlung unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, aber wollen Sie, daß wir Mildred Bescheid sagen?»
«Nein, lieber nicht, es würde sie nur beunruhigen.»
«Ich meine nur, falls...»
«Falls die Polizei mich des Mords bezichtigt?»
«Ich halte das für höchst unwahrscheinlich, aber...»
«Nein.» Charles klang bestimmt. «Nein, ich will nicht, daß Mildred davon erfährt, noch meine übrige Familie, mit Ausnahme von Onkel Giles natürlich.»
«Und Mary Anne?» Kell hob die Augenbrauen.
«Nein!» Er hatte nur selten an Mary Anne gedacht, seitdem das Ganze passiert war. Während der Nacht ging er noch einmal die Ereignisse der Nacht ihrer Flucht aus Cheyne Walk durch. Wo war sie hingegangen? Wie war es ihr gelungen, nach Rouen zurückzukehren?
Als Mary Anne tränenüberströmt an jenem Juliabend 1915 aus dem Haus lief, wußte sie nicht, wohin sie sich wenden noch was sie tun sollte. Sie hatte in ihren Koffer das Notwendigste verstaut und sechs Pfund achtzehn Shilling in der Tasche und ihr Scheckbuch.
Sie fand ein Taxi und gab ihm Andrews Adresse in King Street an. Doch auf halbem Weg entschloß sie sich anders. Es war unsinnig, zu einem Verwandten zu laufen. Das beste wäre, möglichst schnell aus London herauszukommen. Sie war wütend auf ihre Mutter. Gleichzeitig tat sie ihr leid. Mammi, dachte sie, hat den Verstand verloren. Kein Wunder, die ganze Welt war verrückt. Das Grauen und das Sterben hatte sie, Mary Anne, sicher seelisch abgehärtet, aber ihre Mutter hatte nie schwere Zeiten erlebt.
Sie wies den Taxichauffeur an, sie zum Euston-Bahnhof zu fahren. Dora Elliott war sicher noch auf Urlaub, sie hatte erst gestern einen Brief von ihr bekommen.
Der Bahnhof war voll mit Reisenden und Soldaten. Sie löste eine Fahrkarte nach Liverpool. Der Zug hatte Verspätung, so daß sie erst um sechs Uhr früh dort eintraf. Sie winkte ein Taxi heran und gab dem Chauffeur Doras Adresse an. Er warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. Als er in Hafennähe in die engen, schmutzigen Straßen mit ihren verwahrlosten Häusern einbog, verließ sie der Mut. «Tut mir leid, Fahrer», stammelte sie. «Ich... ich habe mich umentschlossen, können Sie mich bitte ins Lime Street Hotel fahren.»
Er zuckte die Achseln und machte kehrt.
Als er sie abgesetzt hatte, war sie von sich selbst angeekelt. Was machte es schon aus, wo Dora wohnte? Dora war mehr als eine Kollegin, sie war während dieser letzten Wochen in Frankreich eine Freundin geworden. Sie war gescheit, heiter und praktisch und behandelte alle Leute gleich, ob Mann, ob Frau. Niemand hatte je über Doras Herkunft nachgedacht. Dora war einfach Dora. Mary Anne trug sich als Miss Edwards ins Hotelregister ein.
Um zwei Uhr nahm sie ein Taxi. Sie bat den Chauffeur, sie an der Ecke von Doras Straße abzusetzen, und ging zu Fuß zu Doras windschiefem Haus. Schmuddelige Kinder spielten auf dem Bürgersteig, einige Türen standen offen, und der mufflige Geruch von abgestandenem Essen und schwitzenden Körpern strömte heraus. Frauen und Männer lehnten an Türrahmen, ein Mann pfiff bei ihrem Anblick, ein anderer schnalzte mit der Zunge.
Die Frau, die auf ihr Klopfen hin öffnete, war schwarz gekleidet und trug einen zerrissenen Schal. Sie war mager, verschlampt und mißtrauisch. Fettige graue Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht.
Mary Anne fragte, ob Dora zu Hause sei. Die Frau antwortete nicht, drehte sich aber um und rief mit schriller Stimme: «Dora, ’ne Dame will dir sehen.»
Mary Anne fühlte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel, als sie über die Schulter der Frau Doras vertrautes Gesicht auftauchen sah.
«Mary Anne!» Dora holte tief Luft. «Bist du von allen Göttern verlassen? Zum Teufel, was tust du hier?»
«Ich brauche Hilfe, Dora...»
«Jesus, Maria und Joseph. Du kannst nicht reinkommen. Es wimmelt hier von Kindern, und Vater kommt gleich nach Hause. Warte!» Die Frau stand noch immer im Türrahmen, ihre Augen warnten Mary Anne, den Fuß über die Schwelle zu setzen.
Einige Sekunden später kam Dora im Mantel herunter, nahm Mary Anne beim Arm, ging schnell mit ihr die Straße entlang und redete auf sie ein. «Du Idiotin, du spinnst ja, hierherzukommen, ein Mädchen wie du! Die Westfront ist weniger gefährlich als diese Gegend. Ich bin hier geboren, ich kann mich wehren, aber eine Fremde! Man wird dich bestehlen, dich anfallen oder... verdammt, ich wollte schon sagen
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