Eine Frage der Balance
Zeit. Der Gedanke an Robbie tut immer noch schrecklich weh. Ich gehe zu den Vorlesungen, aber ich kriege nicht viel mit. Liebeskummer vergeht, heißt es. Andere kommen darüber hinweg. Schließlich ist es doch schon Monate her. Scheinbar bin ich nicht wie andere Leute. Ich weiß nicht, wie ich bin. Das ist das Schlimme, wenn man adoptiert ist und nicht weiß, wer seine richtigen Eltern sind. Sie vererben einem irgendwelche Eigenheiten, von denen man nichts weiß und auf die man nicht vorbereitet ist, und plötzlich kommen sie an die
Oberfläche und packen einen. Man ist für sich selbst unberechenbar.
Und ich habe fast kein Geld mehr ...
[4]
Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Ich habe einen Brief von jemandem namens Rupert Venables bekommen. Ich nehme an, er ist Rechtsanwalt. Nur ein Rechtsanwalt kann so einen Namen haben. Er schreibt, ein entfernter Verwandter hätte mir die Su mm e von 100 £ hinterlassen. Her damit!
Das war mein erster, überglücklicher Gedanke. Dann setzte Janine mir einen Dämpfer auf, indem sie zuckersüß fragte: »Was für ein entfernter Verwandter, Liebes? Von deiner Mutter? Deinem Vater? Oder dir selbst?«
Und Onkel Ted warf ein: »Wie ist die Adresse von diesem Anwalt? Das könnte ein Anhaltspunkt sein.«
Onkel Ted, praktisch wie immer. Der Absender von diesem Venables ist Weaver’s End, Cambridgeshire. Mu ms Familie ist ausnahmslos in South London ansässig, die von Paps in Bristol. Und Todesfälle hat es in der Verwandtschaft in letzter Zeit nicht gegeben, soweit wir wissen; sogar mein armer kleiner Daddybär klammert sich noch ans Leben, draußen in Kent. Somit bleiben nur echte, wirkliche Verwandte von mir, denen es auf geheimnisvollen Wegen gelungen sein könnte, mich aufzuspüren. Ich muß zugeben, ich war ein bißchen aufgeregt, bis Nick verkündete, das Ganze sei ein ausgemachter Schwindel.
Er äußerte seine Meinung eine Stunde, nachdem es für uns andere aufgehört hatte, ein Gesprächsthema zu sein. So lange braucht Nick morgens, um sich von einem Zombie in sein normales Selbst zu verwandeln. Er machte die Augen auf, sammelte seine Schulsachen ein und nahm sich den Brief, um ihn auf dem Weg zur Hintertür einer unerbittlichen Prüfung zu unterziehen.
»Im Absender steht nichts von Rechtsanwalt. Im Brief steht nicht, wer dir das Geld vermacht hat. Da will dich jemand verschaukeln.« Er warf mir den Brief zu, der aber zu Boden flatterte, bevor ich ihn fangen konnte, und ging hinaus.
Schwindel oder nicht, das Geld konnte ich gebrauchen. Das schrieb ich auch diesem Rechtsanwalt. Und ich bat ihn, mir Näheres mitzuteilen.
Heute schrieb er zurück, er werde kommen und mir das Geld persönlich aushändigen. Doch er schrieb nicht wann und nicht, wem ich die Erbschaft verdanke. Ich glaube nicht ein Wort von der ganzen Sache. Nick hat recht. Es ist ein Schwindel.
[5]
... und sagte, ich hätte bestanden! Ich war inzwischen so felsenfest überzeugt davon, wieder durchgefallen zu sein, daß ich ihm nicht glaubte und ihn bat, es zu wiederholen. Also wiederholte er es, und es waren dieselben Worte wie beim erstenmal.
Sind Führerscheinprüfer gewöhnt, daß man sie abküßt? Dieser ertrug es mit stoischer Gelassenheit, dann stieg er aus dem Wagen und floh. Ich riß die »L«-Plaketten herunter, sprang wieder ins Auto und brauste davon. Ungefähr eine Sekunde lang fühlte ich mich schuldig, weil ich Robbies Freund Val einfach am Straßenrand stehenließ, aber er hatte nur für ungefähr hundert Meter neben mir gesessen, die Strecke zwischen seiner Wohnung und dem Prüfungszentrum. Außerdem, vermittelte Val mir das Gefühl, daß er glaubte, weil Robbie mich abserviert hat, könnte er mich jetzt übernehmen, und er soll ruhig wissen, daß er auf dem Holzweg ist. Ich hielt mit quietschenden Reifen vor Onkel Teds Haus und parkte in zweiter Reihe. Nick hatte aus irgendeinem Grund schulfrei, und ich wollte, daß er die frohe Kunde als erster vernahm.
Leider war Janine auch da. Ich glaube, sie führt ihre Boutique ausschließlich durch das Telefon. Onkel Ted hatte an diesem Tag in London zu tun, deshalb war sie nach Hause geeilt, um dafür zu sorgen, daß Nick »etwas in den Magen bekam«, obwohl sie selbst nie zu Mittag ißt - ein leuchtendes Beispiel aufopfernder Mutterliebe. (Um ehrlich zu sein, wenn Nick sich selbst etwas kocht, pflegt er die Küche mit Spagettigirlanden zu dekorieren, so daß ich Janines Logik in diesem Fall nachvollziehen kann.)
Sie war mit Nick in der
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