Eine Frage der Balance
bekam, ihren Nick umzubringen. Ich fragte: »Was sollen wir tun?«
»Fahr weiter Richtung Biflumenia - ich meine, Bedminster«, ordnete Nick an, »dann sage ich dir, wie es weitergeht.«
Allmählich setzte der Feierabendverkehr ein. Es war sehr nützlich, jemanden wie Nick bei sich zu haben, der die Stadt kannte wie seine Westentasche und als Lotse fungierte. Für eine angespannte Viertelstunde war das Bristolia-Spiel vergessen, während wir den Hügel am jenseitigen Flußufer hinauffuhren, auf einem anderen Weg wieder hinunter und in die Zufahrt zur Hängebrücke einbogen. Das beklemmende Gefühl, einen Verfolger im Genick zu haben, verschwand irgendwann unterwegs. Nick lehnte sich aufatmend zurück.
»Bestens. Wir haben ihn abgehängt. Jetzt befinden wir uns in Altera Bristolia, wo die meisten Kundigen der Magie leben.«
»Meinetwegen, aber ich wünschte, wir müßten nicht über die Hängebrücke!« jammerte ich.
»Keine Sorge, ich habe Kleingeld dabei für die Maut.«
»Das ist es nicht! Ich sehe sie immer in meinen Alpträumen!« Mir war ganz und gar nicht wohl bei dem Gedanken, über die Brücke fahren zu müssen, und überhaupt fühlte ich mich wieder deprimiert. Janines Schuld. Sie hatte dafür gesorgt, daß meine Hochstimmung nach der bestandenen Prüfung nicht lange anhielt, und mich in die graue Wirklichkeit zurückgeholt, und auch wenn ich meine Trübsal während der aufregenden Tour durch das exotische Bristolia für eine Weile fast vergessen hatte, war sie doch immer noch da, so schwer und bedrückend wie immer.
»Ich hoffte, es wäre mir gelungen, dich ein wenig aufzuheitern«, meinte Nick.
»Das geht nicht so einfach. Ich leide an gebrochenem Herzen. Und da ist mein Vater - ganz zu schweigen von den Träumen.«
An sich ist es nicht verwunderlich, daß Nick die Sache mit den Träumen mißverstand - die Clifton Suspension Bridge ist berühmt für ihr e Anziehungskraft auf Selbstmörder. »Du meinst, du träumst davon, runterzuspringen?« fragte er.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Viel verrückter als das.«
»Erzähl!«
Also erzählte ich ihm von den Alpträumen, über die ich noch nie mit jemandem gesprochen hatte. Kaum, daß ich sie mir selbst eingestehe, abgesehen davon, daß ich diesen Ordner »Dornenhexe« nenne, nur um zu zeigen, daß ich mir ihrer bewußt bin. Sie sind zu schrecklich.
Begleitet sind sie von einem furchtbaren Gefühl der Angst und Hilflosigkeit. Ich habe diese Träume jetzt seit mehr als drei Jahren, seit wir nach London gezogen sind und Mum und Paps sich scheiden ließen, und ich frage mich, ob ich womöglich den Verstand verliere. Jedenfalls war ich überzeugt, daß Nick sich an die Stirn tippen würde. Aber gemeinsam in einem Auto zu fahren, erzeugt eine vertrauliche Atmosphäre, die mitteilsam macht - eine Art mobile Psychocouch -, und nachdem Nick und ich beide das Gefühl gehabt hatten, verfolgt zu werden, kam es mir ohnehin vor, als wären wir in Gedanken miteinander verbunden.
Also. In den Träumen befinde ich mich immer am innerstädtischen Ende der Brücke, und ich gehe den steilen Pfad an der Uferböschung entlang und finde mich auf einem weiten, mondbeschienenen Hochmoor wieder. Obwohl ich den Mond nicht sehe, weiß ich, es ist Mondlicht. Ich gehe weiter, bis ich zu einem anderen Pfad komme. In manchen Nächten kann ich die Willenskraft aufbringen und mich weigern, diesem Pfad zu folgen. Dann werde ich bestraft. Ich verlaufe mich, irre durch gräßliche Sümpfe, und wenn ich aufwache, fühle ich mich unglaublich verängstigt und schuldig. Wenn ich nachgebe (oder nicht die Kraft aufbringe, mich zu sträuben) und dem Weg folge, gelange ich immer zu einer Art Horizont, wo der Himmel an die Ebene stößt, und in der Mitte steht ein einzelner schwarzer Dornbusch. Dieser Busch ist eine alte Frau.
Erklären kann ich es nicht. Sie ist keine Gestalt aus Strauchwerk. Sie ist nicht der Himmel, den man durch die Zweige sieht. Sie ist auch nicht in dem Busch. Aber in meinem Traum weiß ich, der Busch ist gleichzeitig eine hagere, strenge alte Frau, wahrscheinlich eine Göttin. Ich kann sie nicht leiden. Sie verabscheut mich. Und sie hat mich zu sich gerufen, um mir das klarzumachen.
»Erwarte nicht, je Glück oder Erfolg zu haben«, sagt sie, »bis du nicht diese aggressive Lebenseinstellung aufgegeben hast. Das ist undamenhaft. Eine Dame sollte anmutig die Hände im Schoß falten und andere handeln lassen.« Sie sagt imm er solche Dinge, aber in letzter Zeit
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