Eine Frau - Ein Bus
rund 5000 Millimetern pro Jahr ist Ketchikan einer der feuchtesten Orte auf der Welt. Wir konnten das beurteilen - während unseres gesamten Aufenthalts goss es jeden Tag mindestens einmal. Am liebsten schlenderte ich durch die hübsche historische Innenstadt, wo ich wenigstens immer wieder Schutz unter den Vordächern suchen konnte.
1903 beschloss die Stadtverwaltung von Ketchikan, die Bordelle aus »Uncle Sam’s Wickedest City« (also, Amerikas übelste Stadt, wie es damals hieß) zu entfernen, und befahl, dass sie allesamt in die Creek Street direkt am Wasser verlagert wurden. Da laut Gesetz des Staates Alaska ein Haus, das mehr als zwei »weibliche Pensionsgäste« beherbergte, sich bereits als Stätte der Prostitution qualifizierte, lebten die meisten Frauen allein oder zu zweit. Die Seeleute, die auf den Heilbutt- und Lachsfängern im Nordpazifik unterwegs waren, fanden ihre Lieblingsfrauen anhand der Lampen auf der Veranda, auf denen so hübsche Namen standen wie: Frenchie, Prairie Chicken, Deep Sea Mary und Dirty Neck Maxine. Diskretere Kunden schlichen
sich zu ihrem Rendezvous im Schutz des Dickichts am so genannten »Married Men’s Trail«. Dank ihrer günstigen Lage direkt am Wasser wurde der Alkohol während der Prohibition durch Falltüren über die Bucht in die Etablissements geschmuggelt. So florierte das horizontale Gewerbe bis 1954, als es endgültig unterbunden wurde. Manche der alten Männer maulen noch heute, weil diese ehrlichen Frauen gezwungen wurden, ihre Dienste aufzugeben.
Heutzutage bildet der Tourismus Ketchikans Haupteinnahmequelle, und da jederzeit vier große Kreuzfahrtschiffe gleichzeitig im Hafen anlegen können, verdoppelt sich die Bevölkerungszahl an einem Nachmittag. Das ist auch der Grund, weshalb Ketchikan eigentlich Kitschikan heißen sollte. In den zahllosen Souvenirshops finden sich einzigartige Schätze: ein Plastikelch, der beim Zusammendrücken einen Kotballen produziert (ich wünschte immer noch, ich hätte ihn mir gekauft); Fingerhandschuhe, auf dessen fünf Fingern die Köpfe der wichtigsten heimischen Tiere prangen; ein Kissen mit einem liegenden Elch darauf, dessen Vorder- und Hinterläufe herausragen, um das Ganze plastischer und damit realistischer wirken zu lassen. Realistisch sah es allerdings aus - wie nach einem echten Unfall.
Die Ureinwohner im Südwesten Alaskas, die Tlingit, besaßen eine komplex strukturierte Gesellschaft, die mit einem relativ milden Klima und einem dank der Schätze des Meeres recht sorglosen Leben gesegnet war. In diesem Zusammenhang gab es sogar ein Sprichwort. »Wer hier hungert, muss schon ein Dummkopf sein.« Die Tlingit hatten den Begriff des geistigen Eigentums bereits für sich entdeckt,
lange bevor er Gegenstand der modernen westlichen Gesetzgebung wurde: Für sie gehörte dieses geistige Eigentum nicht einem Individuum, sondern einem Fa milienverbund, einem Clan, der die Besitzrechte für Dinge wie Geschichten, Lieder, Tänze, künstlerische Werke und Reden für sich beanspruchte.
Sie hielten sich auch Sklaven, die sie anderen Ureinwohnervölkern weggenommen hatten. Nachdem die USA Russland das Territorium abgekauft hatte, büßten die Tlingit einen Großteil ihrer Wirtschaft ein und erwarteten von ihrer neuen (amerikanischen) Regierung eine entsprechende Entschädigung. Doch die sollte niemals kommen. Um die Menschen zu beschämen, die ihre Schulden nicht bezahlen, errichten die Tlingit traditionell einen Totempfahl mit den Zügen des Betrügers, und dieser Fall stellte keine Ausnahme dar. Im Saxman Totem Park in Ketchikan sahen wir den Pfahl mit den unmissverständlichen Zügen von Abraham Lincoln auf der Spitze.
Bei der Besichtigung eines Tlingit-Hauses fiel uns das durch die vertikalen Planken hereinsickernde Tageslicht auf. Allround-Freak machte eine kurze Bestandsaufnahme und murrte über die lausige handwerkliche Verarbeitung. Doch als der Führer uns informierte, die allesamt von Hand gezimmerten Planken seien absichtlich so angelegt, waren alle beide, Tim und Allround-Freak, zutiefst beeindruckt: Wir befanden uns derzeit in einer warmen, (relativ) trockenen Periode, so dass sich die Planken zusammengezogen hatten und somit einen natürlichen Durchzug gestatteten. Während der kalten, feuchten Perioden im Jahr dehnten sich die Planken aus, so dass keine Luft mehr eindringen konnte. Das Clan-Haus selbst bestand aus einem großen Raum mit einer Feuerstelle in der Mitte und diente
dazu, mehrere Dutzend Menschen
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