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Eine Frau - Ein Bus

Titel: Eine Frau - Ein Bus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doreen Orion
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haben wollten, aufs Hinterdeck zu gehen und uns an der Reling festzuhalten. Tim und ich sprangen sofort auf und stürmten zum Heck. Bei der ersten Drehung schrie ich auf - weniger vor Entsetzen, sondern vielmehr aus Schock, als mir das eisige Wasser ins Gesicht klatschte.
    »Halt dich lieber fest«, schrie Jim mir mit funkelnden Augen zu, »das war erst der Probelauf.«
    »Keine Sorge«, schrie ich zurück, »das war erst der Probeschrei.«
    Eine echte Prinzessin würde keinen Tag in Jims Welt überleben. Und genau das tat ich auch um ein Haar nicht. Auf seinem Boot gab es keine Toilette, so dass ich sieben Stunden lang nicht pinkeln konnte - entweder das oder mich ins Gebüsch verziehen oder den Außenabort benutzen, den wir in der Nähe der Hütten der Parkverwaltung entdeckt hatten. (Ich konnte nicht sagen, welches davon schlimmer war: in Ersterem zu pinkeln oder in Letzterem zu schlafen. Aber wo wir gerade dabei sind: In Ersterem zu schlafen und Letzterem zu pinkeln wäre ebenso schlimm gewesen. Zum Glück hatte ich nicht die Absicht, eines davon zu tun.) Infolgedessen erlangte ich den Status einer Berühmtheit in unserem Grüppchen, doch als wir zum Bus zurückkehrten, drohte ich beinahe zu platzen.
     
    Als wir durch die schmalen Wrangell Straights fuhren (so schmal, dass nicht einmal Kreuzfahrtschiffe hindurchpassen), um zu unserem nächsten Ziel zu gelangen, beobachteten
wir entzückt, wie sich die Kielwelle der Fähre am nahegelegenen Ufer brach. Wir waren unterwegs nach Sitka, der ehemaligen Hauptstadt Alaskas. Die Fahrt sollte elf Stunden dauern und würde uns die einzige Übernachtung in einer Kabine bescheren. Ein paar besonders hartgesottene Zeitgenossen schlugen den »Luxus« aus (das Love Boat sieht anders aus, so viel kann euch die Pazifikprinzessin verraten) und hatten stattdessen ein Zelt an Deck aufgebaut. Tim ließ den Blick über der bunte Slum aus Gore-Tex-Behausungen wandern. »Wäre das nicht ein Spaß?«, fragte er. Und er meinte es tatsächlich ernst.
    Mit über zwölftausend Quadratkilometern (von denen rund die Hälfte aus Wasser besteht) ist Sitka die größte Stadt der Vereinigten Staaten - zumindest der Fläche nach. (Die Bevölkerungszahl liegt bei gerade einmal neuntausend.) Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ernannten die Russen Sitka nach einer Reihe von blutigen Kämpfen mit den Tlingit zu ihrer Hauptstadt in Nordamerika. Über ein halbes Jahrhundert lang betrieben sie den äußerst lukrativen Handel mit Seeotter-Fellen. Als die Vereinigten Staaten das Gebiet für 7,2 Millionen Dollar erwarben (das sind gerade einmal sechshundert Dollar pro Quadratkilometer), war dieser Industriezweig wegen der Überjagung zerstört. Der Kauf Alaskas fand nicht gerade großen Anklang und ging als »Seward’s Folly« (»Sewards Dummheit«, nach dem Außenminister William H. Seward, der die Verhandlungen vorantrieb) in die Geschichte ein.
    Als Seward zwei Jahre später, 1869, Alaska besuchte, organisierten die Tlingit in Ketchikan einen so genannten Potlatch für ihn - ein ausschweifendes Fest mit außergewöhnlich wertvollen Geschenken, das den Gastgeber üblicherweise an den Rand des Bankrotts treibt. Die Tradition
gebot, dass der Ehrengast im Gegenzug selbst ein derartiges Gabenfest auf die Beine stellte, um dem ursprünglichen Gastgeber die Möglichkeit zu geben, seine Ausgaben wieder hereinzuholen. Der Außenminister, der von dieser Tradition nichts wusste, versäumte prompt die Gegeneinladung, mit dem Ergebnis, dass die Tlingit einen Totempfahl mit dem auf dem Kopf stehenden Gesicht Sewards, einschließlich roter Nase und Wangen, errichteten, um einen Narren zu zeigen, der nicht den Anstand besitzt, seine Schulden zu bezahlen. Falls jemand den Sinn nicht kapieren sollte, sitzt er auf einer leeren Schachtel, die die Geschenke symbolisieren sollen, die er niemals gemacht hat. Nachkommen Sewards waren vor etlichen Jahren in die Stadt gereist und hatten darum gebeten, dass der Totem verändert wurde. Doch die Tlingit hatten sich geweigert - die Schulden waren noch immer nicht bezahlt.
    Unser Campingplatz in Sitka war zwar kaum mehr als ein kleiner Parkplatz am Hafen, aber was für einer. Wir hatten nicht nur Ausblick auf sämtliche Boote, sondern auch auf den winzigen Flughafen mit der einzelnen Startbahn auf der anderen Seite der Bucht und auf die schneebedeckten Berggipfel jenseits des Meeres. Wir verbrachten mehrere Nachmittage damit, mit Miles im Gras zu sitzen und den Anblick zu

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