Eine Frau flieht vor einer Nachricht
Gedanke an die Lebendenso unerträglich war und im vollen Sinne des Wortes den Rest seines Lebenswillens zermalmte, während die Gedanken an seine Geschichte ihm immer noch ein bisschen Blut in die Adern pumpten. Aber dort, in dem hässlichen Hof, neben der Betonmauer des Gefängnisses mit dem ausgerollten Stacheldraht oben drauf, und jetzt, mit dem schmalen Offizier, der noch einen halben Schritt näher kam und sich regelrecht über Avram beugte, um den letzten Moment zu fotografieren, bevor er ganz von Erde bedeckt und von ihr verschluckt würde, wollte Avram nicht mehr leben, in einer Welt, in der es möglich war, dass ein Mensch dastand und einen anderen fotografierte, wie der lebendig begraben wurde – und Avram ließ sein Leben los und starb.
Wie ein Verrückter lief er neben Oras Körper auf und ab, stöhnte, schrie und raufte sich mit beiden Händen das Gesicht und den Bart, und währenddessen flüsterte in ihm eine Stimme, siehst du, schau sie dir an, bis in die Erde hinein kann sie, und sie hat keine Angst.
Ora dagegen beruhigte sich nun etwas, als habe sie gelernt, im Bauch der Erde zu atmen. Ihr Kopf schlug nicht mehr, ihre Hände auch nicht. Ruhig lag sie da und erzählte der Erde, was ihr so einfiel, Unsinn, Kleinigkeiten, was man einer Freundin oder einer guten Nachbarin erzählt. Schon als er klein war, vielleicht ein Jahr alt oder noch jünger, hab ich mich bemüht, dass alles, was ich ihm zu essen gab, schön und ästhetisch aussah, denn ich wollte, dass es ihn ansprach. Beim Kochen für ihn habe ich nicht nur an den Geschmack gedacht, sondern auch an die Farben, an die Farbkombination, damit auch seine Augen ihre Freude hätten. Dann verstummte sie. Was mache ich, dachte sie, ich erzähle der Erde von ihm, warum erzähle ich ihr von ihm, und sie bekam Angst, vielleicht bereite ich sie auf ihn vor, damit sie weiß, wie sie sich um ihn kümmern muss. Eine große Schwäche übermannte sie, einer Ohnmacht nahe stöhnte sie ins Innere der Erde und war für einen Moment ein winziges armes Tierjunges, das sich an einen opulenten warmen Bauch drückt. Und sie meinte, die Erde würde ihr gegenüber etwas weicher, denn plötzlich schien ihr Geruch süßer zu sein, als gebe sie Ora einen Atemzug aus ihren Tiefen zurück. Und Ora atmete ihn ein und erzählte ihr, wie gern er mit den Händen das Püree und das Hühnerfleisch geformt hatte, Männchen undTiere hatte er daraus gemacht und sich danach natürlich geweigert, sie noch zu essen; man kann doch nicht, hatte er mit seinem süßen Lachen gesagt, einen kleinen Hund oder ein Lamm essen, oder gar einen Menschen.
Plötzlich griffen Hände nach ihr, umfassten ihre Hüfte, schüttelten sie und zogen sie weg. Avram. Sie in seinen Armen. Gut, dass er gekommen ist, sie wusste, noch einen Moment, und die Erde hätte sie verschluckt, etwas, was keinen Namen hatte, zog sie nach dort, und sie war bereit gewesen, sich in Staub aufzulösen, gut, dass er gekommen ist, was er für eine Kraft hat, mit einer Bewegung hatte er sie aus dem Bauch der Erde gezogen und war mit ihr auf den Schultern weit von dem Loch weggerannt.
Langsam beruhigte er sich. Stand da, verwirrt, ließ sie an seinem Körper herabgleiten, bis sie ihm gegenüber stand, von Angesicht zu Angesicht, dann sank sie erschöpft auf den Boden. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen und staubbedecktem Gesicht da. Er brachte ihr eine Flasche Wasser und setzte sich ihr gegenüber, sie nahm den Mund voll Wasser und spuckte kleine Klümpchen Staub- und Erdbrei aus und hustete und tränte, immer wieder machte sie sich den Mund feucht und spuckte. Ich weiß nicht, was mir passiert ist, murmelte sie, das ist ganz plötzlich in mich gefahren.
Erst dann konnte sie ihn anschauen. Avram? Avram, hab ich dich erschreckt?
Sie goss sich Wasser in die Hand und fuhr damit über seine Stirn, und er zuckte nicht zurück. Dann fuhr sie mit der feuchten Hand über ihre Stirn und spürte die Schnitte.
Genug, es ist ja schon vorbei, plapperte sie, wir sind okay, alles wird wieder gut.
Ab und zu prüfte sie seine Augen und meinte, in ihnen einen entwischenden Schatten zu sehen, der ins Dunkel, in ein Dickicht floh, und sie verstand es nicht und konnte es auch nicht verstehen. Er hatte ihr nie von dort erzählt. Noch lange strich sie ihm über die Stirn, beruhigte ihn, gab ihm Weichheit und das Versprechen, es werde wieder gut, und er saß da und empfing, nahm auf und rührte sich nicht, nur seine Daumen rannten schnell über die
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