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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Fingerkuppen. Komm, es reicht, sagte sie, quäl dich nicht länger. Und sie sagte wieder, baldkommen wir an eine Straße, wir setzen dich in einen Bus, und dann fährst du nach Hause, ich hätte dich gar nicht mit hierher nehmen sollen.
    Gerade die Weichheit, mit der sie das sagte, so empfand es Avram, der merkte, dass seinem Herzen das Blut ausging, gerade die Weichheit und das Mitleid sagten ihm, siehst du, jetzt passiert das, wovor du dich so viele Jahre gefürchtet hast: Ora verzichtet auf dich. Ora gibt dich auf. Ora findet sich mit deinem Scheitern ab. Er stieß einen giftigen, bitteren Lacher aus.
    Was ist passiert, Avram?
    Ora, sagte er, entfernte sein Gesicht von ihrem und sprach mit müder, kehliger Stimme, als sei auch sein Mund voller Erde: Weißt du noch, was ich dir gesagt habe, als ich zurückgekommen bin?
    Sofort nickte sie entschieden. Sag das nicht. Noch nicht einmal denken darfst du das! Sie griff nach seiner Hand und hielt sie in ihren geschundenen Händen. Sie staunte, dass sie ihn in den letzten Augenblicken immer wieder so unbefangen hatte berühren können und dass er sich nicht wehrte, dass er sie an den Hüften gepackt und von der Erde aufgehoben hatte und mit ihr auf dem Rücken in immer größeren Kreisen um das Loch gelaufen war. Erstaunlich, dass ihre Körper sich wie Fleisch und Blut benahmen. Sag jetzt nichts, bat sie, ich hab jetzt keine Kraft mehr.
    Als er aus der Gefangenschaft zurückkam, hatte sie es geschafft, mit in den Krankenwagen zu steigen, der ihn vom Flughafen ins Krankenhaus brachte. Er dämmerte auf der Trage vor sich hin, seine offenen Wunden eiterten. Plötzlich hatte er die Augen aufgeschlagen, und seine Pupillen stellten bei ihrem Anblick scharf. Er erkannte sie. Er gab ihr mit den Augen ein Zeichen, sie solle sich zu ihm herunterbeugen. Mit letzter Kraft flüsterte er ihr zu, schade, dass sie mich nicht umgebracht haben.

    Unweit der nächsten Wegbiegung hörten sie Gesang. Da sang ein Mann sehr laut, und andere schleppten ihre Stimmen ohne jede Anmut und ziemlich falsch hinter seiner her. Vielleicht schlagen wir uns in die Büsche, bis die vorbei sind, brummte Avram. Erst vor ein paar Minuten waren sie beide aus einem Schlaf erwacht, der sie in ihrerErschöpfung am helllichten Tag direkt am Wegrand überfallen hatte – aber die Leute waren schon zu sehen. Avram wollte aufstehn, Ora legte ihm die Hand aufs Knie, hau nicht ab, die werden einfach weitergehen, wir schauen sie nicht an, dann werden sie auch uns nicht anschauen. Er saß mit dem Rücken zum Weg und schaute auf die Erde.
    An der Spitze der kleinen Truppe schritt ein junger Mann, groß, sehnig, bärtig, mit schwarzen Haarsträhnen im Gesicht und einer großen bunten Kippa auf dem Kopf. Er tanzte, warf euphorisch Arme und Beine in die Luft, sang und jubelte, und hinter ihm folgten, Hand in Hand, etwa zehn Männer und Frauen; krumm und blöde starrend, stimmten sie in seine Lieder ein oder brummten irgendeine andere kraftlose Melodie, schwangen ab und zu ein müdes Bein, torkelten und schubsten sich gegenseitig. Mit aufgerissenen Augen starrten sie das am Wegrand sitzende Paar an, und der Mann, der an der Spitze ging, zog mit seiner Truppe einen Kreis um die beiden, während er weiter sang und hüpfte, und wenn er die Arme in die Luft warf, folgten ihm mit perplexem Zucken die Arme der anderen, und der ganze Kreis löste sich auf, bis sich alle wieder an den Händen fassten, und der Mann lächelte übers ganze Gesicht und beugte sich beim Tanzen und Singen zu Ora und fragte leise und völlig sachlich, ob alles in Ordnung sei, und Ora schüttelte den Kopf, nichts war in Ordnung, und er betrachtete ihr geschundenes, schmutziges Gesicht, schaute dann zu Avram, und eine Falte zwischen seinen Augen wurde tiefer, dann blickte er um sich, als suche er etwas – Ora spürte, er wusste genau, was er suchte –, und er entdeckte das Loch in der Erde, und Ora presste, ohne es zu merken, die Schenkel zusammen.
    Gleich darauf tanzte er wieder ekstatisch vor ihnen, eine große Not hat euch befallen, meine Brüder, sang er, und Ora antwortete kurz, das kann man wohl sagen. Der Mann fragte nach, eine Not von Menschenhand oder eine vom Himmel, und fügte leise hinzu, oder gar von der Erde? Ora sagte, an den Himmel glaub ich nicht wirklich, und der Mann lächelte und fragte, und an den Menschen glaubst du? Ora ließ sich ein bisschen von seinem Blick verführen und sagte, von Tag zu Tag weniger, und der Mann richtete sich auf

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