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Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Eine Frau flieht vor einer Nachricht

Titel: Eine Frau flieht vor einer Nachricht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Grossman
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Augenzwinkern, und nur eine Seele auf der Welt, ein kleines Mädchen mit Brille und nicht besonders hübsch, war in der Lage, alle seine Wünsche zu deuten. Auch eine lange Abenteuergeschichte mit vielen verschiedenen Handlungen hatte sie in ihrem letzten Jahr geschrieben, das hatte ein richtiges Buch werden sollen, mit festem Einband.
    Stundenlang hatten sie sich zusammen den Kopf über den Titel zerbrochen, und fast jeden Morgen berichtete Ada, wie viele Seiten sie wieder geschrieben hatte, und Ora wurde ganz stolz, als wäre es ihr gemeinsames Kind, das da heranwuchs und prächtig gedieh.
    Lebendig, scharf, fast unerträglich war die Erinnerung plötzlich: Ada liest ihr vor, stellt ihr die verschiedenen Figuren samt ihren Stimmen und Bewegungen vor, manchmal auch mit Kostümen und Hüten, sie weint und lacht mit ihnen, ihr von Sommersprossen übersätes Gesicht rötet sich, als züngelten Flammen in ihrem Kopf und schauten durch ihre Augen, und ihr gegenüber sitzt Ora mit untergeschlagenen Beinen, weit aufgerissenen Augen und denkt, wenn ich mit Ada zusammen bin, dann geht’s mir gut. Da bin ich wie im Traum, aber nicht allein.
    Wenn Ada fertiggelesen hatte, war sie oft erschöpft, verloren und wie wund, aber Ora kam schnell wieder zu sich. Jetzt war sie an derReihe: Umarmen, einhüllen, Ada verbinden, sie keinen Augenblick ohne ihre Hand lassen.
    Ich frag mich die ganze Zeit, ob sie wohl einen Freund hat, sprach Avram irgendwo dort mit sich selbst, mit dieser heiseren Stimme des Tagträumers. Sie hat zwar gesagt, sie hätte keinen, aber das kann nicht sein, so eine bleibt doch keine Minute allein, die Kumpel in Haifa sind doch nicht blöd. Er hielt inne und wartete auf eine Reaktion. Sie schwieg. Was heißt das, sagte er, will sie mir nicht von ihrem Freund erzählen oder hat sie wirklich keinen? Sie hat keinen, sagte Ora leise. Wie kommt es, dass sie keinen hat? flüsterte Avram. Das weiß sie auch nicht, sagte Ora nach langem Schweigen – ließ sich wider Willen zu seinem Stil verführen und fand, dass es sogar angenehmer war, auf diese Art über sich zu reden – lange hat sie überhaupt keinen Freund gewollt, sagte sie und sprach die Worte, ohne es zu merken, auf den langsamen und gespannten Rhythmus, in dem die Pulsschläge vom Ende des Zimmers her drangen, und später war einfach keiner da, der passte, ich meine, keiner, der ihr wirklich gepasst hätte.
    Hat sie noch nie jemanden geliebt? fragte Avram, und Ora antwortete nicht. Im Dunkeln hatte er den Eindruck, dass sie immer mehr in sich selbst versank und ihr langer Hals in einem schmerzhaften Winkel zu ihrer Schulter, zum fernen Teil des Zimmers geneigt, beinahe zerbrach, als fesselte sie eine tyrannische Kraft, wie jene, die seinen eigenen Körper umklammerte. Dann hat sie doch jemanden geliebt, sagte Avram, und Ora schüttelte den Kopf, sie hatte bloß gedacht, sie würde jemanden lieben, aber jetzt wusste sie, das war nichts, das war bloß so, einfach verschwendet. Sie bekam kaum noch Luft, eine Welle der Kränkung schnürte ihr die Kehle zu, bloß so, murmelte sie verzweifelt noch einmal, da war gar nichts.
    Und sie spürte, in dem Moment, wo sie anfangen würde, ihm von Avner zu erzählen, würde die Wahrheit in einem gewaltigen, schmerzhaften Strom aus ihr hervorbrechen, die ganze Wahrheit über diese nichtsnutzigen zwei Jahre, doch dann könnte sie es schon nicht mehr zurückdrehen, dann könnte sie nicht mehr wie vorher leben, und sie erschrak darüber, wie sehr sie genau dies wollte, und lächelte und brannte darauf, es ihm zu erzählen.
    Wart mal kurz, flüsterte er plötzlich vom Ende des Zimmers, ichkomm gleich zurück. Was? Wo bist du, erschrak sie, was haust du plötzlich ab? Nur einen Moment, stieß er hervor, ich bin gleich zurück! Nein, nein, rief Ora entsetzt, was soll das, lass mich jetzt nicht allein, was machst du, wo gehst du hin, Avram?
    Mit letzter Kraft riss er sich los, lief hinaus, stützte sich an den Flurwänden, schleppte sich weiter, weg von ihr, und alle paar Meter hielt er an, schüttelte den Kopf und sagte sich, geh zurück, auf der Stelle gehst du zurück, und dennoch zwang er sich und schleppte sich weiter, bis er sein Zimmer erreichte und sich auf sein Bett setzte.
    Hinter seinen Pupillen hämmerte es. Er packte mit beiden Händen seinen Kopf, vielleicht schrie er sich sogar selbst mit schmerzverzerrtem Mund an, geh zurück, geh zurück, was hast du gemacht, warum ausgerechnet in diesem Augenblick, warum machst du

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