Eine geheime Liebe - Roman
jeweils anderen eingedrungen. Jetzt wussten wir nicht mehr, wie wir herausfinden sollten.
Für mich war diese Frau ein Geschenk, Gabriella, kannst Du das verstehen? Er hat mir oft von seinen Töchtern erzählt, wie Väter das halt tun. Die Schule, die Fortschritte in der Entwicklung, seine Liebe zu ihnen, die kleinen Probleme des Alltags, ganz simpel, ohne jede Tiefe. Gründlich und perfekt. Er klang wie ein Handbuch für Eltern, die alles richtig machen wollen, um sich selbst die eigenen Unzulänglichkeiten nicht eingestehen zu müssen. Wir haben uns gerne Geschichten über unsere Kinder erzählt. Eines Tages sagte er, dass er sich eine Mutter wie mich gewünscht hätte. Vorschnell, der Junge. Hätte er Mattia und Carolina erlebt, hätte er sich bestimmt eines Besseren besonnen. Mein ungebetener Gast hat mich gefordert, wie ich es mir nie hätte vorstellen können, und mich zwischen
Bewunderung und Furcht hin und her schwanken lassen. Die Ärmel meines Pullovers sind auf meine Hände herabgerutscht, ein instinktiver Schutzmechanismus. Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa, Lucrezia und ich, und waren auf dieselben ein Meter neunzig an Erinnerungen eingeschworen.
»Es war an einem Nachmittag, eine Sitzprobe kurz vor einem Konzert. Er saß allein in einer Loge. Ich habe ihn vom Parkett aus gesehen. Ohne nachzudenken, bin ich zu ihm gegangen. Um uns herum war alles still. Das Schicksal hatte ein raffiniertes Drehbuch geschrieben. Der erste Satz von Brahms’ Dritter wurde gespielt. Diese Sinfonie haben nur wenige Dirigenten im Repertoire, weil sie mit ihrem geflüsterten, unbestimmten, ätherischen Schluss nicht gerade zu Begeisterungsstürmen einlädt. In diesem Augenblick erschienen mir der Dirigent und die über einhundert Musiker wie elegante, farblose Statisten in meinen romantischen Fantasien. Solchen, wie ich sie immer sorgfältig erdacht habe und manchmal auch in mitreißende Filme nach wahren Begebenheiten einfließen lassen konnte. Ich setzte mich auf den mit rotem Samt bezogenen Stuhl in der Loge im dritten Rang, nahm sanft sein Handgelenk und sah ihm direkt in die Augen. Er suchte nach einer Antwort auf meinen gehetzten Blick, aber unter den gegebenen Bedingungen brachte er nicht einmal einen förmlichen Gruß über die Lippen. Tja, Lucrezia, so war das.«
»Und dann? Was ist dann passiert?«
»Wir haben uns wieder getroffen, unter denselben Bedingungen,
mit derselben Intensität. Wir haben miteinander geschlafen, um uns zu beweisen, dass unsere Harmonie nichts Künstliches hat. Bei den ersten Malen war unsere Verlegenheit wirklich grotesk. Jedes Gespräch hätte die zerbrechliche wiedergefundene Intimität zerstört.«
»Wie war mein Vater im Bett?«
Gabriella, diese Frau hat Mut. Die Vorstellung, dass Eltern Sex haben, versetzt die Kinder in die unangenehme Situation, ihre Eltern als ganz normale Wesen wahrnehmen zu müssen. Leute, die sich gelegentlich lieben. Sie hat mich ohne jedes Unbehagen gebeten zu beschreiben, wie sich ihr Vater im Bett verhalten hat - mit einer Frau, die nicht ihre Mutter war, kannst Du Dir das vorstellen? Das war eine Herausforderung für meine natürliche Unbefangenheit in diesen Dingen. Leider konnte ich mich aber gar nicht mehr daran erinnern, wie ihr Vater im Bett war. Und wie soll man überhaupt auf eine solche Frage antworten? Mit einem Adjektiv? Was weiß ich: »feurig«, »melancholisch«, »geschickt«, »fantasievoll«, »locker«, »professionell«?
Nicht vergessen habe ich, wie durchsichtig und wehrlos ich mich fühlte, wenn ich das Bedürfnis hatte, von ihm in den Arm genommen zu werden.
»Es gab Tage, Lucrezia, an denen ich ihn nur ausziehen wollte. Anderes hat mich dann nicht interessiert. Wir sahen uns in einem Café, auf der Straße, in einer Theaterloge, wo wir Musik hörten, und alles, was ich begehrte, vereinte sich in dem Wunsch, ihn seiner Kleidungsstücke zu entledigen. In quälender Langsamkeit oder mit ein paar entschiedenen
Griffen. Ihr Vater hatte keinen schönen Körper, wenn man einen muskulösen, straffen Körper darunter versteht. Sein Körper war fließend und hat sich der Umgebung angepasst. Seine wunderschönen Handgelenke hat er mit einer widerstrebenden Eleganz zur Schau gestellt, und seine langen Beine habe ich geliebt. Ich bin dreiundsiebzig geworden, ohne auch nur dem unerfahrensten Heranwachsenden einen Vortrag über Sex halten zu können. Nach dem ersten Mal habe ich ihm einen Brief geschrieben. Und nach dem zweiten Mal. Und nach
Weitere Kostenlose Bücher