Eine geheimnisvolle Lady
Mal fühlte Ashcroft sich in dieser ländlichen Idylle fehl am Platz. Während der letzten Tage hatte er erkannt, dass Diana Carrick ihr eigenes Leben führte, mit Pflichten und Interessen, die nichts mit ihrem Londoner Liebhaber zu tun hatten. War er tatsächlich nur ein vorübergehendes Amüsement gewesen? Sofort verdrängte er den Gedanken. Niemals würde er das glauben, kein Zweifel sollte seine Entschlossenheit schwächen.
Jetzt erschien Miss Smith in der Tür und winkte Diana ins Haus. Seufzend rutschte er am Buchenstamm hinab, streckte die gestiefelten Beine im üppigen, von Blättern übersäten Gras aus und entnahm der Tasche seines Jacketts ein kleines, in Saffianleder gebundenes Buch.
Wie so oft in letzter Zeit konnte er sich nicht auf eine Lektüre konzentrieren. In diesem Wald gefangen, in der Nähe von Dianas Heim, quälte ihn ein konstanter Kummer. Nichts konnte ihn von seinem Elend ablenken, und er sah sich mit einem Leben konfrontiert, das einer Wüste glich. Wie erniedrigend, dermaßen im Selbstmitleid zu versinken …
Und das war Dianas verdammte Schuld. Er hatte sich wohlgefühlt in seinem Dasein, bevor sie mit ihren lüsternen Forderungen in seine Bibliothek eingedrungen war. Nein, das stimmte nicht. Schon vorher war er rastlos gewesen. Und dann hatte die Affäre sein Leben vertieft und bereichert. Großer Gott, keiner anderen Frau würde er so hingerissen nachlaufen.
Wieder einmal versuchte er sich von seinen Grübeleien abzulenken und schlug das Buch auf. In wohlgesetzten lateinischen Versen starrte ihn der Anfang der »Aeneis« an. Angewidert klappte er das Buch zu. Wenn er die Geschichte eines echten Helden las, würde er sich erst recht wie ein hungernder Straßenköter vorkommen.
Aus der Ferne drang das Geräusch einer klickenden Tür heran. Ohne übertriebenen Optimismus hob er den Kopf. Sicher würde Diana irgendwo hingehen, um ihre Arbeit zu erledigen, wie üblich in Gesellschaft.
Ja, sie war es. Ausnahmsweise allein. Sein lächerliches, sehnsuchtsvolles Herz verführte einen verrückten Tanz. Ganz egal, wie oft er sich sagte, er dürfe ihr nicht trauen, heilte ihn nichts von dieser unmittelbaren primitiven Reaktion. Sie schnippte mit den Fingern. Mühsam kam der alte Spaniel auf die Beine und schüttelte sich.
In Ashcrofts Körper spannten sich alle Muskeln an. Vielleicht würde er endlich, endlich an sie herankommen. Doch er weigerte sich, seine Aufregung für Freude zu halten. Ebenso, wie er es seit der Trennung ablehnte, in der Leere seines Lebens ein Symptom dafür zu sehen, wie sehr er Diana vermisste. Ungeduldig beobachtete er sie. Würde sie wieder ins Haus gehen? Wartete sie auf jemanden? Sie sprach wieder mit ihrem Vater, verließ den Garten nicht, peinigte Ashcroft mit ihrer unerreichbaren Nähe. Trotz seines Zorns brannte er darauf, sie zu berühren. Unbeachtet fiel das Buch ins Gras, und seine Hände umschlossen seine Schenkel, als würden sie Dianas Brüste umfassen, ihre seidige Haut streicheln und sich in ihr Haar schlingen.
Es war einfach falsch, dass sie nicht bei ihm war. Eine Sünde wider die Natur, so als würde die Sonne im Osten sinken oder ein doppelter Mond über den Himmel wandern.
Sie kehrte nicht ins Haus zurück, schaute auch nicht auf, um einen der Pächter zu begrüßen, die dauernd vorbeigingen. Stattdessen schnippte sie wieder mit den Fingern, überquerte den Rasen, und der alte Hund trottete auf arthritischen Beinen hinter ihr her. Wusste sie, wo Ashcroft wartete? Jedenfalls steuerte sie sein Versteck direkt an. Wie er ihren anmutigen Gang, den reizvollen Hüftschwung liebte … Mit den langen Schritten einer Landbewohnerin ging sie dahin, nicht so wie die Londonerinnen mit ihren affektierten Trippelschrittchen.
Über einem braunen Kleid trug sie eine dunkelblaue Schürze. Die Ärmel waren hochgekrempelt, ein Hinweis auf eine Frau, die ernsthaft arbeitete, statt herumzulungern, Bonbons zu essen und Besucher zu unterhalten. Ihr dichtes Haar hatte sie zu einer Zopfkrone hochgesteckt – schlichter als ihre kunstvollen Frisuren in London. Im Sonnenschein schimmerte das Gold wie reifer Weizen.
Würde Ashcrofts verrückter Plan tatsächlich zum Erfolg führen? Schneller und schneller strömte das Blut durch seine Adern. Wie ein Dieb zu lauern, war ihm niemals als befriedigende Taktik erschienen. Und bisher hatte er auch nichts damit gewonnen. Gäbe es eine wirksamere Methode, Diana in einen Hinterhalt zu locken, würde er sich sofort darauf
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