Eine geheimnisvolle Lady
daraus zu schöpfen.
Ihr Gewissen ließ nicht zu, dass die Umarmung ihr auch Trost spendete.
Schließlich senkte John Dean die Arme. Sie richtete sich auf, rang nach Fassung und bot ihre besten schauspielerischen Fähigkeiten auf. Sogar das kleinste Anzeichen von Kummer oder geheuchelter Normalität würde er sofort wahrnehmen. Sie hatte erwogen, ihn nicht aufzusuchen. Aber der Dienstbotenklatsch im Herrschaftshaus würde ihm ihre Anwesenheit verraten. Und wenn sie nicht zu ihm kam, würde er sich sorgen.
Das tat er ohnehin, was sein Stirnrunzeln und sein forschender, liebevoller Blick bekundeten. »Ich habe dich vermisst, mein Kind.«
»Ich freue mich so, dich wiederzusehen, Papa.«
An den meisten Tagen hatten sie eng zusammengearbeitet. Seine Klugheit, seine Erfahrung und seine Ratschläge waren ihr stets eine wertvolle Hilfe gewesen. Sehnsüchtig dachte sie an das geschäftige, ehrbare Leben zurück, das sie vor der Reise nach London geführt hatte. Auch der Vater fehlte ihr, seine Integrität, seine Güte, das rückhaltlose Vertrauen, das er in sie setzte.
Ein Vertrauen, das sie nicht mehr verdiente, wie sie wusste.
John Dean wandte sich kurz in die Richtung seines Sekretärs. »Wenn Ezra dich auch gut vertritt, mit dir war die Arbeit immer ein besonderes Vergnügen.«
»Hoffentlich mutet mein Vater Ihnen nicht zu viel zu, Mr. Brown«, sagte sie und zwang sich, den jungen Mann anzulächeln.
Die Wangen hochrot, sprang er eifrig auf. Schon vor langer Zeit hatte sie bemerkt, dass der junge Mann für sie schwärmte. Anscheinend tat er es immer noch. »Oh, Mr. Dean hat mir sehr viel beigebracht, Mrs. Carrick, sogar in dieser kurzen Zeit. Natürlich muss ich irgendwann wieder meine Stellung in der Abbey antreten, das werde ich sehr bedauern.«
»Vorerst nicht, Mr. Brown«, erwiderte sie in beiläufigem Ton, als würde sie von unwichtigen Dingen sprechen. »Ich bin nur hier, um ein paar Sachen zu holen. Noch heute Vormittag fahre ich nach London zurück.«
In wenigen Minuten, falls die Kutsche Seiner Lordschaft rechtzeitig eintraf. Diese Begegnung hatte sie bis zum letzten Moment hinausgezögert, damit ihr Vater nicht allzu viele Fragen stellen konnte. Bestürzt sah sie die Enttäuschung, die sein Gesicht verdüsterte. »Muss das sein? Hier gibt es genug zu tun. Einen Großteil dieser Arbeit kannst nur du erledigen.«
Typisch für ihn. Wie einsam und verloren er sich in ihrer Abwesenheit fühlte, erwähnte er nicht. Sogar Laura hatte sie ihm entführt.
Mr. Brown zog den Kopf ein. Offenbar ahnte er, dass ein Streit in der Luft lag. »Wenn Sie mich entschuldigen, Mr. Dean, ich möchte Mr. Parker suchen und nach dem Brennholz für den Westflügel fragen.«
»Ja, ja«, stimmte John Dean ungeduldig zu. Normalerweise war er sehr freundlich. Aber wie die Schärfe in seiner Stimme verriet, war er nicht allzu glücklich mit seinem neuen Assistenten.
Als Diana mit ihrem Vater allein war, bezog sie sich auf die Geschichte, die sie gemeinsam mit Burnley erfunden hatte. Es kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit, obwohl seither erst wenige Wochen verstrichen waren. Es war erschreckend, in welch kurzer Zeit Lug und Trug ihr Leben völlig verändert hatten. »Lady Kelso besteht auf meiner Rückkehr.« Hoffentlich würde der Vater ihr glauben. »Und Lord Burnley schrieb mir, er würde meine Bemühungen schätzen.«
Damit schien sie ihren Vater nicht zu überzeugen.
»Warum legt Lady Kelso so großen Wert auf die Anwesenheit zweier fremder Frauen? Was könnt ihr der Dame bedeuten, du und Laura? In London verschwendest du deine Zeit, Diana. Und ich … brauche dich.«
Reumütig wich sie seinem Blick aus. Sie ahnte, wie viel ihn dieses Geständnis kostete. »Lord Burnley besteht darauf, dass ich den Sommer bei Lady Kelso verbringe, Papa. Du weißt, was wir ihm schulden.«
Viel mehr, als sie wahrhaben wollte. Er erlaubte ihrem Vater, seine Position beizubehalten, obwohl längst sie die Zügel des Landguts übernommen hatte. Die meisten Arbeitgeber hätten John Dean pensioniert. Aber aus irgendwelchen Gründen bewies der selbstsüchtige Marquess seinem Verwalter eine Loyalität wie niemandem sonst. Und ihr gab er die Chance, ihr Los zu verbessern, während die meisten Männer sie für eine unnütze Person gehalten und ignoriert hätten.
Dianas Vater murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und tastete nach seinem Stock. Dass er ihn verfehlte und zu Boden fallen ließ, bezeugte seinen Unmut. Rex winselte und kam mühsam
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