Eine Geschichte von Liebe und Feuer
dürstete, war ihnen dicht auf den Fersen. Drei Jahre waren vergangen, seit die Türken die Stadt verloren hatten, aber den Plan, sie zurückzuerobern, hatten sie nie aufgegeben.
5
L eonidas lehnte zusammengesunken an der Wand einer Getreidehandlung. Sein Kopf war auf die Brust gesunken und seine zerrissene Uniform mit getrocknetem Blut befleckt. Schmutzige, von Blutergüssen blauschwarz verfärbte Zehen ragten aus den zerschlissenen Stiefelspitzen hervor.
Ein paar Hundert Meter entfernt kamen eine Frau und ihre Tochter in frischen, hellen Sommerkleidern die StraÃe entlang. Das kleine Mädchen, ein reizendes Kind, hüpfte neben der Mutter her und sah sich neugierig um. Sie wusste, dass in ihrer Stadt etwas vor sich ging, ohne zu wissen, was es war.
Eng an die Brust gedrückt, trug die Mutter ein Baby, das in helle, mit rosa Blumen bestickte Baumwolltücher gewickelt war.
Bislang war Smyrna, abgesehen von den wenigen turbulenten Tagen im Jahr 1919 , als es von griechischen Truppen eingenommen wurde, relativ unbehelligt geblieben. Von den Umwälzungen im übrigen Land bekamen die Einwohner seltsamerweise nichts mit. Die Bauern verkauften ihre Feigen-, Aprikosen- und Granatapfelernte in den StraÃen, und Menschen in den unterschiedlichsten Trachten schlossen in einem Dutzend verschiedener Sprachen Opium-, Seiden- und Weihrauchgeschäfte ab. Die Oper war jeden Abend ausverkauft, und in den StraÃencafés wurden die Gäste von Streichquartetten unterhalten.
Noch eine Woche zuvor war diese StraÃe mit dem Duft von Jasmin und frischem Brot aus einer nahen Bäckerei erfüllt gewesen. Jetzt stank es nach ungewaschenen Menschen. Denn nach der plötzlichen Ankunft Tausender griechischer Soldaten strömten in Wellen auch griechische Flüchtlinge aus dem Inland herein. Genau wie die Soldaten waren sie vor der türkischen Armee geflohen und besaÃen kaum mehr als ihre Kleider am Leib.
Die Einwohner Smyrnas packte jetzt die Angst, vor allem als Gerüchte kursierten, die türkische Kavallerie befände sich schon dicht vor der Stadt.
»Komm weiter, agapi mou , lass uns ein bisschen schneller gehen«, sagte die junge Mutter besorgt.
Im Vorbeigehen warf sie einen verstohlenen Blick auf die griechischen Soldaten, die alle in der gleichen Stellung, mit gesenktem Kopf und gespreizten Beinen am Boden saÃen. Sie sahen aus, als wären sie vor einem ErschieÃungskommando zusammengesackt. Dass sie kaum mehr bei Sinnen waren, war die Folge ihres erbarmungslosen, tausend Kilometer langen Marsches ohne Verpflegung, auÃer den Nahrungsmitteln, die sie in den Städten und Dörfern entlang des Wegs geraubt hatten.
In dem Moment bemerkte die Frau, dass die Soldaten sie anstarrten.
»Wir müssen uns beeilen. Schnell!«, stieà sie hervor, begann zu rennen und zog das Kind mit sich. Die unheimliche Stille in den StraÃen, die scheinbar toten Körper, die nun zum Leben zu erwachen schienen, und die in den Schatten lauernden Hunde â nichts davon war normal in Smyrna, und sie hatte unbeschreibliche Angst. Doch ihre Sinne waren hellwach, genau wie die der räudigen Hunde. Beide waren sich einer unbekannten, aber unmittelbar bevorstehenden Gefahr bewusst.
Währenddessen herrschte in Leonidasâ Kopf ein Gewirr aus Erinnerungen und Halluzinationen, die wie ein Teufels tanz durcheinanderwirbelten. Obwohl er es noch nicht ahnte, würden ihn die furchtbaren Erinnerungen an alles, was er gesehen und selbst verschuldet hatte, nie mehr loslassen. Mit einigen seiner überlebenden Männer war er vor ein paar Tagen in Smyrna eingetroffen, in der Hoffnung, übers Meer nach Thessaloniki zu entkommen. Britische, franzö sische, italienische und amerikanische Kriegsschiffe lagen im Hafen, aber nirgendwo war eine griechische Flagge zu sehen. Sie waren zu spät gekommen. Die griechischen Schiffe, die Tausende ihrer Kameraden aufgenommen hatten, waren bereits ausgelaufen.
Erschöpft von ihrem Marsch hatten sie irgendwo in einer stillen StraÃe einen Lagerplatz gefunden. Es würde schon irgendwie weitergehen, doch für den Moment lieÃen sie sich auf dem harten Pflaster nieder und schliefen wie betäubt auf der Stelle ein.
Ein paar Stunden später breitete sich eine graue Decke über Leonidas aus. Nicht das wärmende Steppbett, das seine Mutter im Winter über ihn legte, sondern ein dichter Schwaden aus Rauch, der in Nase und Lungen
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