Eine Handvoll Worte
einreibt. Dieses Bild taucht mit strafender Regelmäßigkeit in ihrem Kopf auf, seitdem John vor sechs Tagen abgereist ist. Das schlechte Wetter kommt ihr vor wie ein kosmischer Witz auf ihre Kosten.
Das Mietshaus erhebt sich wie eine graue Platte hinter einem breiten, von Bäumen gesäumten Bürgersteig. Sie geht die drei Steinstufen hinauf, drückt auf die Klingel für Nummer acht und wartet, ungeduldig von einem durchnässten Fuß auf den anderen hüpfend.
»Hallo?« Die Stimme ist deutlich, nicht so alt, wie sie es sich vorgestellt hat. Gott sei Dank hat Jennifer Stirling heute vorgeschlagen: Der Gedanke, einen ganzen Samstag ohne Arbeit zu bewältigen, ohne ihre Freundinnen, die anscheinend alle zu tun haben, war furchterregend. Wieder die sommersprossige Hand.
»Ellie Haworth hier. Wegen Ihrer Briefe.«
»Ah, kommen Sie herein. Ich wohne in der dritten Etage. Kann sein, dass Sie eine Weile auf den Aufzug warten müssen. Er ist entsetzlich langsam.«
Gebäude dieser Art betritt sie sonst nur selten, in einer Gegend, die sie kaum kennt; ihre Freundinnen wohnen in Neubauwohnungen mit winzigen Räumen und Tiefgaragen, oder in Maisonettewohnungen, wie die Schichten einer Torte in Viktorianische Reihenhäuser gequetscht. Dieses Haus zeugt von altem Geld, unempfindlich gegenüber Moden. Ihr fällt dabei das Wort »Witwe« ein – John könnte es benutzen –, und sie muss lächeln.
Die Eingangshalle ist mit einem dunkeltürkisfarbenen Teppich ausgeschlagen, eine Farbe aus einer anderen Zeit. Dem Messinggeländer an den vier Marmorstufen ist anzusehen, dass es häufig poliert wird. Sie denkt an den Gemeinschaftsbereich in ihrem Wohnhaus mit den Stapeln vernachlässigter Post und sorglos abgestellten Fahrrädern.
Der Aufzug fährt würdevoll hinauf in den dritten Stock, knarrend und rumpelnd, und sie tritt hinaus in einen gefliesten Flur.
»Hallo?« Ellie sieht die offene Tür.
Danach ist sie nicht mehr sicher, was sie sich vorgestellt hat: eine gebeugte ältere Dame mit zwinkernden Augen und vielleicht einem netten Schal in einer Wohnung voller Porzellantiere. Jennifer Stirling ist das nicht. Sie mag über sechzig sein, ihre Gestalt jedoch ist geschmeidig und aufrecht, nur ihr silbergraues Haar, zu einem gescheitelten Bubikopf geschnitten, deutet auf ihr wahres Alter hin. Sie trägt einen dunkelblauen Kaschmirpullover und eine Strickjacke mit Gürtel über einer gut geschnittenen Hose, die eher Marke Dries van Noten als M&S ist. Um den Hals hat sie einen smaragdgrünen Schal geschlungen.
»Miss Haworth?«
Sie spürt, dass die Frau sie beobachtet, womöglich abgeschätzt hat, bevor sie ihren Namen verwendete.
»Ja.« Ellie streckt die Hand aus. »Ellie, bitte.«
Das Gesicht der Frau entspannt sich ein wenig. Was für eine Prüfung es auch gewesen sein mochte, sie hat sie anscheinend bestanden – vorerst zumindest. »Kommen Sie doch herein. Hatten Sie einen weiten Weg?«
Ellie folgt ihr in die Wohnung. Erneut stellt sie fest, dass ihre Erwartungen nicht der Wirklichkeit entsprachen. Keine Nippsachen. Der Raum ist groß, hell und spärlich möbliert. Zwei große Perserteppiche zieren die hellen Holzböden, und zwei mit Damast bezogene Sofas stehen einander an einem gläsernen Couchtisch gegenüber. Die einzigen verbleibenden Möbelstücke sind von unterschiedlichem Stil und erlesen: ein Stuhl, der vermutlich teuer ist, modern und dänisch, und ein kleiner antiker Tisch mit Walnussintarsien. Fotos von Familie, kleinen Kindern.
»Was für eine schöne Wohnung«, sagt Ellie, die sich nie besonders um Innendekoration gekümmert hat, plötzlich aber weiß, wie sie leben will.
»Nett, nicht wahr? Ich bin … achtundsechzig hier eingezogen, glaube ich. Damals war es ein ziemlich schäbiges altes Haus, aber ich dachte, es wäre für meine Tochter gut, hier aufzuwachsen, da sie in einer Stadt leben musste. Von dem Fenster dort kann man den Regent’s Park sehen. Darf ich Ihren Mantel nehmen? Möchten Sie einen Kaffee? Sie sehen durchnässt aus.«
Ellie nimmt Platz, während Jennifer Stirling in der Küche verschwindet. An den in zarter Cremefarbe gehaltenen Wänden hängen ein paar große moderne Kunstwerke. Ellie betrachtet Jennifer Stirling, als sie wieder hereinkommt, und sie ist nicht überrascht, dass diese Frau in dem unbekannten Briefschreiber eine solche Leidenschaft entfacht hat.
Verbotene Liebe.
Ein Foto auf dem Tisch zeigt eine lächerlich schöne junge Frau, die wie für ein Porträt von Cecil
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