Eine heißblütige Lady: Roman (German Edition)
und rüttelte an dem Knauf.
Dass noch immer niemand reagierte, versetzte Julianne nun in Angst.
Sie atmete tief durch. Inzwischen war ihr Mantel schon völlig durchnässt. Vielleicht reagiere ich überzogen, dachte sie. Leah könnte zum Beispiel ihre Verabredung vergessen haben und unterwegs sein. Sie hat allerdings noch nie eine Verabredung vergessen, erinnerte sie ein Teil von ihr, der noch rational zu denken vermochte. Sie wollte das Geld so dringend, dass es Julianne meist nur mit Mühe gelang, das Haus zu betreten, ehe es ihr entrissen wurde.
Nein, irgendetwas stimmte hier nicht. Sie spürte es.
»Ich muss da rein.« Wenn Leah wirklich umgezogen war, ohne ihr ein Wort davon zu sagen, wären auch ihre Besitztümer verschwunden. »Glauben Sie, Sie können die Tür aufbrechen?«
Der alte Mann drückte seine Schulter gegen die billige Tür, doch diese bewegte sich keinen Zentimeter. Als er beiseitetrat, versuchte sie es selbst und warf sich mit ihrem Gewicht gegen das Holz. Aber die Tür hielt. Sie schluchzte verzweifelt auf.
»Kann ich irgendwie behilflich sein?«
Beim Klang der irischen Stimme fuhr sie herum. Fitzhugh stand auf dem Bürgersteig. Regen tropfte von der Krempe seines Huts, der die vertrauten Gesichtszüge in Schatten tauchte.
Später werde ich ihn fragen, wie er so schnell hier auftauchen konnte , beschloss Julianne. Im Moment war sie einfach dankbar für seinen massigen Körper und seine gewohnt zupackende Art.
»Ich muss in dieses Gebäude gelangen.«
»Erlaubt Ihr, Lady Longhaven?«
Der Diener ihres Mannes – den sie immer für jemanden gehalten hatte, der mehr konnte als die Kleidung faltenfrei zu bügeln oder kleine Besorgungen zu machen – erwies sich als sehr hilfreich. Die Tür quietschte, das Schloss schnappte auf, und Julianne eilte am Kutscher vorbei ins Innere des Hauses. »Leah?«
Niemand antwortete. Im Haus war es kalt, und in der Luft hing der abgestandene Rauch eines Kaminfeuers, das schon vor längerer Zeit erloschen war. Außerdem roch es abgestanden nach den letzten Mahlzeiten. Juliannes Mut sank, als sie den Flur durchquerte und im schäbigen Salon nachschaute. Weil sie Chloe dort das letzte Mal gesehen hatte, eilte sie anschließend in den kleinen Raum hinter der Küche.
Das Haus war verlassen. Das war ziemlich offensichtlich, und das nicht nur wegen der leeren Räume und der Kälte. Es war vor allem die Stille. Nicht mal die unhöfliche alte Aufwartefrau, die sonst die Tür öffnete, war zu sehen. Da Leah nicht gerade für ihre Verlässlichkeit bekannt war, durfte Julianne nicht allzu überrascht sein.
Sie war am Boden zerstört.
Dabei hatte sie doch nur versucht, etwas Gutes zu tun …
»Sie ist nicht hier.« Julianne versuchte, nicht allzu verzweifelt zu klingen. »O Gott, ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht …«
»Wer ist nicht hier?« Fitzhugh stellte die Frage mit düsterem Blick, während Tränen über Juliannes Wangen rannen.
»Ein kleines Mädchen … Sie ist ungefähr so groß.« Sie hielt die Hand ungefähr auf Höhe ihres Oberschenkels. »Es gab nebenan eine Frau, vielleicht ist das Mädchen bei ihr …«
Da hörte sie plötzlich das Geräusch. Es war nur ein gedämpfter Laut, nicht mehr als ein Wimmern, aber sie hatte es eindeutig gehört. Julianne wirbelte herum. »Chloe?«
»Es kam von dort.« Fitzhugh eilte bereits Richtung Küche.
»Aber da drin war ich schon …« Julianne hob ihre nassen Röcke und rannte hinter ihm her. Sie blieb in dem dunklen Raum stehen und blickte sich suchend um. Lauter rief sie: »Chloe?«
Wieder dieser Laut. Ganz leise, fast nicht hörbar. Julianne folgte dem Geräusch. Ein entsetzlicher Verdacht keimte in ihr auf, aber zugleich wurde sie von Erleichterung erfasst, denn als sie die Tür zu der feuchten Speisekammer öffnete, sah sie die kleine Gestalt in der Ecke kauern. Sie kniete sich neben das Kind und konnte einfach nicht glauben, dass selbst eine so unverantwortliche und missgünstige Frau wie Leah ihr Kind in einem ansonsten verlassenen Haus allein lassen konnte.
»Ich bin’s, Julianne«, flüsterte sie. Aber sie zögerte, das kleine Mädchen einfach in die Arme zu nehmen.
»Wer hat denn das arme Ding hier allein gelassen?«, fragte Fitzhugh sichtlich aufgebracht. »Es gibt vieles, das ich an London nicht mag, aber besonders verhasst ist mir, wie sie ihre Kinder im Stich lassen. Dieses kleine Mädchen, so verlassen an diesem kalten Ort …« Er verstummte und schüttelte den Kopf.
Aus riesigen
Weitere Kostenlose Bücher