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Eine Hexe mit Geschmack

Eine Hexe mit Geschmack

Titel: Eine Hexe mit Geschmack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. Lee Martinez
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etwas?«
    Von jedem anderen wäre die Frage
vielleicht dreist gewesen, aber er hatte auch meine beantwortet. Es war nur
gerecht, wenn ich seine ebenfalls beantwortete.
    »Man kann schwer etwas vermissen,
was man nie hatte.«
    Wyst nahm einen Schluck Wasser aus
seinem Becher. »Ich weiß nicht. Manchmal vermissen wir die Dinge, die wir nie
hatten, am meisten.«
    »Ich hatte nie das Verlangen nach
etwas anderem als Fleisch, roh und blutig. Das ist mein Fluch. Deshalb ist es
nicht dasselbe wie mir selbst einen Genuss zu verweigern. Es ist eher wie einer
Schildkröte Juwelen zu geben. Weder ist es notwendig noch wird es gewürdigt.«
    Wyst nickte. Sein Blick wanderte
zu den Abendsternen, während er den Rest seines Mahls verzehrte. »Ich verstehe.
Also gibt es keine Genüsse, die du dir versagst?«
    Dies war ein wichtiger Moment.
Eine gute Hexe hätte eine Antwort gegeben, die ihre Menschlichkeit verbarg. Ein
Dutzend Entgegnungen kamen mir in den Sinn, jede davon in ihrer Unbestimmtheit
angemessen. Ich wählte jedoch keine davon.
    »Es gibt« - ich zog meinen Hut
tiefer, um das Erröten meiner Wangen zu verdecken - »Versuchungen.«
    Molch murmelte vor sich hin. Auf
gewisse Weise war er ein strengerer Meister als die Grausige Edna, aber er war
nicht mein Meister. Seine Meinung zählte wenig.
    »Molch, geh Feuerholz holen!«
    Er blinzelte in die kräftigen
Flammen und den kleinen, jedoch ausreichenden Vorrat an frischen Ästen daneben.
»Warum schickst du nicht Gwurm? Er ist größer und hat Hände.«
    Ich warf einen Blick auf meinen
Troll, der sich am frühen Abend zurückgezogen und zusammengerollt hatte, einem
Felsblock ähnlich. »Er schläft.«
    »Dann weck ihn auf.«
    Mein Vertrauter sah mir in die
Augen und versuchte, mich niederzustarren. Seine Unverschämtheit war in der
letzten Zeit lästig geworden, und eine weitere Lektion schien nun angezeigt.
Ich hätte ihm öfter welche erteilen sollen, aber sein konträres Wesen rührte
von seinem Dämon her. Ich bestrafte ihn nicht gern für seine verzauberte Natur.
Er befand sich, darin mir selbst sehr ähnlich, in einem ständigen Kampf mit
einem Teil seiner selbst. Ich disziplinierte ihn nur, wenn ich das Gefühl
hatte, er gab sich bei diesem Konflikt nicht mehr genug Mühe.
    Ich nahm meinen Umhang ab und warf
ihn über ihn. »Wo hab ich denn bloß den kleinen Molch hingetan?«, fragte ich
sanft. Dann hob ich den Umhang an, und darunter kam eine einzelne kleine Feder
zum Vorschein, die dort lag, wo vorher die Ente gesessen hatte.
    Wyst kannte mich gut genug, um zu
wissen, dass ich Molch keinen dauerhaften Schaden zugefügt hatte. »Wohin hast
du ihn geschickt?«
    »Ich habe ihn verlegt, also
vermute ich, er wird an dem Ort sein, wohin alle verlegten Dinge gehen: dieser
geheime Ort, wo verlorene Schlüssel, lose Münzen und beinahe, jedoch nicht ganz
vergessene Erinnerungen darauf warten, wiedergefunden zu werden. Er wird
irgendwann wieder auftauchen, so wie die meisten verlorenen Dinge.
Höchstwahrscheinlich, wenn wir nicht einmal nach ihm suchen.
    Wie wird man ein weißer Ritter?«
Es war ein Bruch des Hexenprotokolls, solch eine Frage zu stellen und
preiszugeben, dass es Dinge gab, die ich nicht wusste. Aber jetzt, da Molch
verloren war, machte ich mir noch weniger Gedanken über meine Hexenhaftigkeit.
Ich war nicht bereit, sie vollkommen aufzugeben, aber es schien mir leichter,
sich keine Sorgen zu machen, wenn die einzigen Zeugen ein schlafender Troll,
ein Besen und ein Pferd waren.
    »Es ist ein Geheimnis.«
    »Hexen sind sehr geschickt im
Bewahren von Geheimnissen.«
    Wyst und ich wechselten ein
leichtes Lächeln. »Ja, davon gehe ich aus.«
    Er nahm seinen dritten und letzten
Schluck Wasser für diesen Abend und steckte den Becher zurück in sein Bündel.
Dann legte er sich auf seine Decke auf der kalten, harten Erde. Es bedurfte all
meiner Willensstärke, mich nicht auf ihn zu werfen, mit den Händen über seine
Brust zu fahren und ihm vielleicht die Nase abzubeißen. Bevor dieser Drang
unwiderstehlich wurde, begann er seine Geschichte zu erzählen, wobei er in den
Himmel blickte.
    »Kein Mensch ist vollkommen gut
oder schlecht. Sie mögen größtenteils das Eine oder das Andere sein, aber sie
haben immer bis zu einem gewissen Grad ihren Gegenpart. Und manchmal gibt es
Menschen, entweder durch Zufall oder durch ihre Entwicklung, deren Seelen in
perfekter Balance ruhen. Gut und Böse in genauem Gleichgewicht. Wenn ein Mensch
dieses Stadium erreicht, beachtet ihn

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