Eine hinreißende Schwindlerin
die Hand aus. „Das Federmesser.“
„Wie bitte?“
„Dein Federmesser. Gib es mir bitte, ich brauche es.“
Gareth stellte keine weiteren Fragen und zog das schmale, glänzende Messer aus der Tasche, das Ned einst benutzt hatte, um eine Orange zu zerteilen. Jenny nahm es ihm ab und marschierte auf den Spieltisch zu.
Ned schien seine Umgebung immer noch nicht wahrzunehmen. Er stützte sich mit dem Ellenbogen auf dem Tisch ab und rieb sich die Stirn. In der anderen Hand hielt er lustlos die Karten. Er sah nicht auf, als Jenny an den Tisch trat, seine Freunde hingegen schon. Er reagierte auch nicht, als sie eine Hand entschlossen in die Hüfte stemmte. Doch als sie ihm die Karten wegnahm, zuckte er erschrocken zusammen.
„Die Herren müssen blind sein“, sagte sie und zeigte Neds Karten im Kreis herum. „Diese Karten sind gezinkt.“
Überraschtes Gemurmel wurde laut. Argwöhnisch betrachteten die anderen jungen Männer ihre eigenen Karten. Ned war buchstäblich der Kiefer heruntergeklappt, es hatte ihm restlos die Sprache verschlagen. Jenny legte Neds Karten offen auf den Tisch, damit jeder sie sehen konnte, und nahm Gareths Federmesser in die rechte Hand.
„Ich kann gar nichts sehen. Wie denn?“, fragte jemand links von ihr. Die Männer hier am Tisch waren zwar jung, aber sie waren allesamt einflussreiche, vermögende Adelige, die sie kurzerhand auf die Straße hätten werfen können. Aber Jenny ließ sich ihr Unbehagen nicht anmerken.
Sie klappte das Messer auf. „So.“ Sie durchbohrte Neds Karten und versenkte die Messerklinge tief im Tisch.
Ned starrte seine Karten fassungslos an. „Mada… ich meine, Miss Keeble! Was, zum Teufel, machen Sie denn hier?“
Jenny legte eine Hand um das Heft des Messers. „Was glauben Sie, was ich hier mache? Ich verscheuche Ihre sogenannten Freunde.“ Sie sah die anderen Spieler an, die kreidebleich geworden waren. Zweifelsohne hatten sie noch nie eine Frau an einem Spieltisch gesehen, höchstens wenn man eine zum Amüsement hatte kommen lassen. „Nun? Machen Sie, dass Sie fortkommen, wenn Sie nicht als Nächstes an die Reihe kommen wollen.“
In die Männer um Ned kam Bewegung. Sie sprangen auf und flüchteten wie Ratten in die entgegengesetzte Ecke der Spielhölle.
Jenny wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Ned zu. „So, ich habe Ihnen gesagt, warum ich hier bin. Aber was machen Sie hier?“
„Ich … Sie …“
„Ach, Sie brauchen es mir eigentlich nicht zu erklären, ich habe schon verstanden.“
Er hob das Kinn. „Sie sagten, Sie wären mir etwas schuldig, nicht wahr? Gut. Ich will, dass Sie gehen.“
Jenny setzte sich und zog das Messer aus dem Tisch. Dann klappte sie es wieder zu und ließ es in ihre Rocktasche gleiten. „Mr. Carhart, leider haben Sie mir nicht vorzuschreiben, wie ich meine Schulden bezahle.“ Sie nahm eine Handvoll unversehrter Karten vom Tisch und zählte sie kurz durch. Gut, es waren genug. Sie schob Ned die Hälfte davon hin. „Jetzt werden Sie gegen mich spielen. Hier, das ist Ihr Blatt.“
„Aber Sie haben es doch schon gesehen!“
Sie hatte sich vorher keine großen Gedanken gemacht, wie es weitergehen sollte, sobald sie Ned für sich allein hatte. Doch jetzt begriff sie plötzlich, warum Ned sich dieses Spiel ausgesucht hatte und warum er um so horrende Einsätze spielte. Er wollte sich selbst Angst einjagen und ein bewusst hohes Risiko eingehen, damit er wieder zur Vernunft kam. Er versuchte, gegen die Dunkelheit anzukämpfen, die ihn so fest im Griff hatte. Nun, wenn Ned Angst bekommen wollte – damit konnte sie dienen.
„Ach ja, das hätte ich fast vergessen.“ Sie fächerte die restlichen Karten auf dem Tisch auf, bis sie die richtige gefunden hatte und offen auslegte. „So, Karo ist Trumpf. Wollen Sie nun setzen oder nicht?“
„Nein! Das ist lächerlich. Die Karte ist nicht nach dem Zufall ausgewählt worden und Sie haben sich selbst noch gar kein Blatt gegeben!“
„Sich lächerlich zu machen, scheint Ihre Spezialität zu sein. Sollen wir uns auf einen Einsatz von fünftausend Pfund einigen oder ist das zu wenig?“
Er schlug so fest mit der Hand auf den Tisch, dass seine Karten hüpften. „Ich mache nicht mit! Ich will nicht spielen!“
„Wie Sie wünschen. Ich wollte Ihnen nur helfen.“
„Helfen! Indem Sie mich betrügen und mir mein Geld abnehmen?“
„Richtig“, gab Jenny zurück. „Wie Ihnen sicher bekannt ist, verstehe ich mich blendend aufs Betrügen und Abnehmen von Geld.
Weitere Kostenlose Bücher