Eine hinreißende Schwindlerin
Außerdem bin ich Ihnen etwas schuldig. Mir scheint, Sie wollen sich das Leben in einem melodramatischen Anfall von tödlicher Gekränktheit ruinieren. Warum sollten Sie dieses Vorhaben wochenlang in die Länge ziehen? Ich kann Ihnen helfen, Ihr Ziel in weniger als einer Stunde zu erreichen.“
„Ich will nicht … ich kann nicht … ich habe nicht …“
„Ach, hören Sie doch auf herumzustottern, Ned. Warum etwas abstreiten, was jeder deutlich sehen kann? Wenn Sie nicht versuchen, Ihr Leben zu ruinieren, nur um zu beweisen, dass Sie es können, dann weiß ich auch nicht, was Sie hier tun.“
Er presste die Lippen aufeinander.
„Fünftausend Pfund sind also nicht genug für Sie? Blakely“, fragte Jenny, „wie viel ist unser Mr. Carhart hier wert?“
„ Blakely ist hier?“ Ned verdrehte erstaunt den Kopf und sah seinen Cousin hinter sich stehen. Seufzend schlug er die Hände vors Gesicht.
Gareths Miene war undurchdringlich. „Ich schätze, so um die achtzig- bis neunzigtausend. Nach den letzten Tagen möglicherweise etwas weniger.“
Neunzigtausend Pfund? Das war eine schwindelerregende Summe. Mit neunzigtausend Pfund hätte Jenny sich über alle gesellschaftlichen Ansprüche hinwegsetzen können. Sie hätte eine Vergangenheit und eine Familie für sich erfinden, ja, vielleicht sogar heiraten können. Unwillkürlich sah sie zu Gareth hinüber und schüttelte kaum merklich den Kopf. Er würde sie ohnehin nicht zur Frau nehmen, und schon gar nicht, wenn sie seinem Cousin vor seinen eigenen Augen das Geld aus der Tasche zog. Sie verdrängte den törichten Gedanken.
„Einfache Regeln“, sagte sie. „Fünf Karten für jeden. Derjenige, der mehr Stiche macht, bekommt den ganzen Einsatz. Sie setzen alles, was Sie besitzen, und ich …“ Sie schob ihre letzten Bedenken beiseite und fasste in den Bund ihres Rocks. Sie brauchte eine Weile, den kleinen Geldbeutel hervorzuziehen. Er hatte sich so leicht angefühlt, als sie an diesem Morgen das Kleid verkauft hatte, jetzt wog er plötzlich schwer in ihrer Hand. Sie stülpte ihn um und klirrend rollten die Münzen über den Tisch. „Ich setze sechzehn Pfund.“ Und acht Pennys, obwohl in Anbetracht von Neds Reichtum diese armseligen paar Münzen wohl kaum erwähnenswert waren. Wenn sie das tat, würden die beiden Männer, die sie jetzt so verblüfft anstarrten, sofort begreifen, dass sie soeben alles, was sie besaß, gesetzt hatte.
Sechzehn Pfund, das war für Jenny eine vorstellbare Größe. Die Summe passte in ihren Kopf, sie passte in ihre Hand. Viel mehr brauchte eine anspruchslose Frau nicht, um ein Vierteljahr lang zu überleben, während sie sich nach einer anderen Arbeit umsah. Sechzehn Pfund bedeuteten monatelang Brot, Käse und gelegentlich einen Apfel. Sie bedeuteten ein Dach über dem Kopf. Sie bedeuteten drei Monate lang Gareths Küsse. Sechzehn Pfund waren Jennys letzte Hoffnung.
Sie sah Ned an. Es muss nicht sein.
„Das ist nicht gerecht“, protestierte Ned. „Neunzigtausend gegen ein paar Pfund?“ Er fegte mit der Hand über den Tisch.
Jenny versuchte, nicht zusammenzuzucken, als ihre Münzen davonrollten. „Ich finde es nur recht und billig“, fuhr sie ihn an. „Alles, was Sie besitzen, gegen alles, was ich besitze. Sie wollen Ihr Leben ruinieren? Dann haben Sie wenigstens den Mut, das wie ein Mann auf einen Schlag zu tun!“
„Also gut.“ Ned setzte sich gerade hin und seine Züge verhärteten sich. „Ich akzeptiere. Sie haben schon einmal mein Leben zerstört, da kann ich Ihnen auch die Chance geben, es ein zweites Mal zu versuchen.“
Sie konnte ihm das meiste zurückgeben, sobald er sich von dem Schock erholt hatte und wieder zur Vernunft gekommen war. Und wenn sie nur vierhundert Pfund für sich zurückbehielt, als eine Art Aufwandsentschädigung? Vielleicht auch tausend, das reichte aus, um ihr Unabhängigkeit bis an ihr Lebensende zu garantieren. Damit konnte sie sich den Respekt erwerben, den sie sich so sehr wünschte, ganz gleich, wer ihre Eltern gewesen waren. Schließlich sprach Geld eine eigene Sprache.
Doch die Versuchung ließ nicht locker. Ungezählte Möglichkeiten schossen Jenny durch den Kopf. Ihre Hände zitterten.
Wer bin ich ? Die Frage hallte in ihr nach.
Das Stimmengewirr in der Spielhölle schien plötzlich um sie herum zu verstummen, wie ein Wolkenbruch, der in ein sanftes Nieseln überging. Die Stille legte sich wie eine Decke über ihre Gedanken. Einen kurzen Augenblick lang löste sich ihre
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