Eine italienische Kindheit
lassen, nie an Operationen gegen die italienische Bevölkerung teilgenommen und sogar, wenn er konnte, auch Italienern geholfen hatte. Am Kriegsende wurde er im April 1945 in Venetien von Partisanen gefangen genommen, die ihn aber sofort wieder frei ließen, als italienische Zivilisten für ihn eintraten. Ich brauche nicht zu unterstreichen, von welcher Bedeutung die Bekanntschaft mit einem solchen Deutschen für mich war. Er bewies mir, dass auch unter den Soldaten der Wehrmacht nicht alle angepasst gewesen waren. Doch sagte auch er mir nichts Erhellendes über den Ursprung des Nationalsozialismus und über die Lage im Nachkriegsdeutschland.Er war ein einzelgängerischer, verschlossener und schweigsamer Mann, und so erfuhr ich am Ende von seiner Geschichte mehr von anderen Deutschen, die ihn besser kannten, als von ihm selbst. Ich möchte die Namen dieser beiden deutschen Historiker nicht verschweigen. Der 1986 verstorbene Heinrich Lutz, ab 1966 Professor an der Universität Wien, war der eine, der andere Helmut Goetz. Goetz publizierte eine Studie, in der er nachwies, dass sich nur elf italienische Professoren geweigert hatten, den geforderten Treueid auf den faschistischen Staat zu leisten, und deshalb entlassen wurden. Er lebt heute, soviel ich weiß, hoch in den Neunzigern in Venetien, wohin er sich nach vielen Jahren Dienst am Deutschen Historischen Institut zurückgezogen hat.
Mein Wissensdurst war indessen zu groß, um vor der Zurückhaltung meiner deutschen Bekannten zu kapitulieren. Was ich nicht aus ihrem Mund hatte erfahren können, fand ich in Büchern. Mir fiel Friedrich Meineckes Schrift
Die deutsche Katastrophe
aus dem Jahr 1946 in die Hände. Ich wusste zwar, dass der Autor sich im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Professoren in den zwölf Jahren der Herrschaft des Nationalsozialismus von ihm ferngehalten hatte. Er hatte sich nicht kompromittiert und mit seiner unbeugsamen Opposition ein leuchtendes Beispiel gegeben. Da er in Kontakt mit zivilen und militärischen Persönlichkeiten des Widerstands stand, war er für mich ein Zeuge von besonderem Rang. Es ist zu viel Zeit vergangen, um mich noch genau daran zu erinnern, was ich damals von dieser Schrift dachte. Bekanntlich erinnert man sich ja viel besser an Ereignisse als an Ideen. Ich besitze aber noch das Buch, das ich damals begierig immer wieder las. Als ich es jetzt wieder aufschlug,fand ich darin einen Zettel mit meinen Anmerkungen und im Text Unterstreichungen und kurze Randbemerkungen, die es mir erlauben, annähernd zu rekonstruieren, was ich an Wesentlichem diesem Buch entnahm. Was mich störte, waren das patriotische Pathos und die Leitideen, die gleichen, die auch andere seiner Geschichtswerke inspiriert haben: Macht, Irrationalität und Dämonismus, Begriffe, die damals in der deutschen Kultur Saison hatten – man denke nur an Thomas Manns
Doktor Faustus
. Sie irritierten mich, ich lehnte sie völlig ab.
Dagegen überzeugte mich die enge Verbindung, die Meinecke zwischen dem Nationalsozialismus und dem preußisch-deutschen Militarismus herstellte. Weshalb, ist leicht zu verstehen. Sie stellte für mich einen willkommenen Anlass dar, meine Bewunderung und die verführerische Attraktion der deutschen Soldaten, die ich als Kind empfunden hatte, einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Die scharfsinnige Analyse der militärischen Traditionen Preußens von seiten eines Historikers, der deren Anfänge untersucht hatte, beeindruckte mich sehr. Wie Meinecke darlegte, war das Korps der preußischen Offiziere vom Geist totaler Hingabe an den Beruf durchdrungen, was sie dazu führte, blind selbst das Leben für den Zweck zu opfern, den ihre Befehlshaber ihnen vorgaben. Die Militärs waren Techniker des Kriegs und schon in Friedenszeiten auf Gehorsam gedrillt. Ihr einziges Ziel war die größtmögliche Effizienz, weshalb sie in diesem automatischen Mechanismus verstrickt blieben. Es gab keinen Raum mehr für moralische Bedenken, wodurch sie fast zwangsläufig in die Arme Hitlers getrieben wurden und ihm die entscheidende Unterstützung für seinen Aufstieg lieferten. Meinecke machte mir deutlich,dass das Organisationsgenie, das ich an den Deutschen so bewundert hatte, dem Land zum Verhängnis geworden war und es in die Katastrophe gestürzt hatte. In Bezug auf das Attentat des 20. Juli 1944 schien mir das Gespräch, das Meinecke kurz vor dessen Ausführung im Mai 1944 mit General Beck führte, sehr bedeutsam. Meinecke hatte die Meinung
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