Eine Lady nach Maß
ihre Kräfte mit Gymnastik und Gesundheitsspaziergängen zu verschwenden. Aber für ein kränkliches Mädchen, das in einer schmutzigen Stadt aufgewachsen war, war Professor Lewis’ System der Leibesertüchtigung wahrscheinlich die Rettung gewesen.
Hannah ging einen Hügel hinauf und kam am Schulhaus von Coventry vorbei. Nach dem Kreuz zu urteilen, das auf dem Dach angebracht war, diente es zusätzlich als Kirche. Ein kleiner Fußpfad schlängelte sich rechts an dem Gebäude vorbei. Hannah beschloss, ihm zu folgen. Immer mehr Bäume säumten ihren Weg, je weiter sie ging und sie erspähte in der Ferne einige Pekannussbäume, die Brennholz versprachen. Da sie ihren Laufrhythmus aber nicht verlieren wollte, ging Hannah erst einmal weiter, bis sie an einen kleinen Bach kam, über den eine Holzbrücke führte.
Entzückt betrat Hannah die Brücke und lehnte sich über das Geländer, um den Bach zu betrachten. Sie nahm das funkelnde Sonnenlicht in sich auf, das sich auf dem plätschernden Wasser spiegelte, atmete den Duft der feuchten Erde und der Bäume ein und lauschte den wispernden Melodien, die der Wind in den Blättern spielte.
Herr, wie wunderbar ist es hier. Die Schönheit deiner Schöpfung macht mich sprachlos. Wenn ich mit meinen Arbeiten auch nur einen Bruchteil dessen zeigen kann, will ich zufrieden sein. Möge mein Können deine Herrlichkeit widerspiegeln und dir Freude machen.
Hannah atmete lang und tief ein und gestattete der Schönheit des Augenblicks, sie mit Frieden zu erfüllen. Nirgendwo fühlte sie sich Gott so nahe wie in der Natur. Die Geschäftigkeit der Stadt lenkte sie ab, doch der Herr schenkte ihr Zeiten der Ruhe. Manchmal segnete er sie mit Augenblicken wie diesen, in denen sie nichts anderes tun konnte, als ihn preisen. Zu anderen Zeiten erinnerte er sie mit Kleinigkeiten an seine unfassbare Größe und Liebe. Ein voller Mond am schwarzen Nachthimmel; eine Wildblume in einem Riss des Bürgersteiges; ein rotes Herbstblatt, das vom Baum fiel, selbst im Vergehen noch wunderschön.
Dieser letzte Gedanke rief ihr Victoria Ashmont und ihr skandalöses rotes Beerdigungskleid in Erinnerung. Ein Lächeln umspielte Hannahs Lippen, als sie dankbar an die alte Dame dachte. Eine winzige Großzügigkeit ihrerseits hatte Hannahs Leben komplett verändert. Hannah wollte beweisen, dass das Vertrauen der alten Dame in sie gerechtfertigt gewesen war.
Seufzend ging Hannah in die Stadt zurück. Das Gewicht ihrer vollen Tasche, die sie mit Brennholz gefüllt hatte, behinderte dabei nicht ihre Geschwindigkeit. Als sie den Weg am Schulhaus hinabging, sah sie nicht weit vor sich einen alten Mann mit einem Maultier. Mit hängenden Schultern und schleppenden Schritten schlich er langsam weiter, sodass Hannah ihn in wenigen Augenblicken eingeholt hatte. Mitleid überkam sie, als sie die Gestalt dicht vor sich sah. Als aber der Wind drehte und seinen Geruch zu ihr herüberwehte, war sie froh, dass sie ihr Tempo noch nicht verringert hatte. Hannah konzentrierte sich darauf, durch den Mund zu atmen, und zwang sich zu einem Lächeln, als der Mann sich umwandte.
„Guten Tag, Sir. Es ist ein wunderbarer Morgen für einen Spaziergang.“ Ihre Lungen bettelten darum, husten zu dürfen, doch Hannah unterdrückte dieses Verlangen.
„Das stimmt, junge Dame. Das stimmt.“ Er erwiderte ihr Lächeln. Zumindest vermutete Hannah das, denn unter seinem struppigen Bart ließ sich die Form seines Mundes beim besten Willen nicht ausmachen.
Sein grauer, zerzauster Vollbart hing ihm bis auf die Brust, etwa vier Zentimeter länger als sein Haar, das unter einem Hut hervorschaute, der so schmutzig war, dass Hannah unmöglich seine Farbe hätte bestimmen können. Das Einzige, was an ihm nicht heruntergekommen aussah, war der Wanderstock, den er in seiner linken Hand hatte. Hannah hatte einen solchen Stock noch nie gesehen. Er schien aus einem gekrümmten Ast zu bestehen, den man seiner Rinde beraubt hatte, und glänzte frisch poliert. Von der Länge her überragte er seinen Besitzer um einige Zentimeter. Das Holz war von zimtener Farbe, durchzogen von helleren Streifen, die einen schönen Kontrast erzeugten. Sofort überlegte Hannah, wie man dieses Farbspiel in Stoffen umsetzen könnte.
„Was für ein schöner Stab. Ist er aus Süßhülsenbaum?“
„Genau. Er schimmert schön, nicht wahr?“ Sein Ton war freundlich, doch seine blassen blauen Augen waren voller Traurigkeit. „Ich will ihn unten am Bahnhof zusammen mit meinen
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