Eine Lady nach Maß
sein Büro erreichte. „Der Doktor war vorhin da und hat den Einspänner gemietet. Er meinte, dass Mrs Walsh jetzt jeden Tag ihr Kind bekommen könnte, und wollte ihr einen Besuch abstatten. Ich hab den Wagen einfach fertig gemacht und ihm mitgegeben. War das so richtig?“ Er hatte die Hände in den Taschen vergraben und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
J.T. klopfte ihm auf den Arm. „Gut gemacht. Ich setze es auf seine Rechnung.“
Ein stolzes Grinsen nahm Toms Gesicht ein.
Die Bibel fühlte sich in seinen Armen sehr schwer an, als er an Tom vorbeiging und den Knauf der Tür umdrehen wollte. Genauso schwer wie sein Herz. Er warf einen Blick über seine Schulter.
„Ähm, Tom?“
Der Junge wandte sich um. „Ja?“
„Würde es dir was ausmachen, wenn du noch eine Stunde hierbleibst? Ich muss mich in meinem Büro um was Wichtiges kümmern und möchte nicht gestört werden.“
„Klar.“ Tom beäugte das in Leder gebundene Buch unter J.T.s Arm. „Wenn du für diese Sache eine Bibel brauchst, muss es wirklich mächtig wichtig sein. Ich lasse keinen zu dir, es sei denn, es ist ein Notfall. Ich kümmere mich um alles.“
„Danke.“ J.T. nahm das Buch unter seinem Arm hervor und hob es wie zum Salut an die Stirn. Dann schloss er die Tür hinter sich.
An seinem Schreibtisch legte er die Bibel ab und sah sie eine Weile einfach nur an. Schließlich schob er sie zur Seite und ergriff ein anderes Buch. Darin blätterte er, bis er die richtige Seite gefunden hatte, trug die Miete für den Einspänner auf der Rechnung des Doktors ein und rechnete alle Beträge zusammen, die noch offen standen.
Nachdenklich rieb er sich das Kinn. Jetzt, wo er dabei war, konnte er eigentlich gleich die Rechnung ausstellen. Und vielleicht auch die anderen Rechnungen an seine Kunden. Das war sowieso eine Aufgabe, die er viel ernster nehmen sollte.
Während dieser Arbeit schweifte sein Blick immer wieder zu der Bibel hinüber, die stumm und geduldig auf ihn wartete. Im Moment hatte er etwas Wichtigeres zu tun. Doch als er mit den Zahlen fertig war, kam ihm das Buch immer bedrohlicher vor.
Er sah sich nach einer neuen Aufgabe um. Eigentlich sollte er sich um das Zaumzeug kümmern. Und seit mindestens einem Monat hatte er keinen Staub mehr gewischt. Und das Fenster sollte dringend geputzt werden.
Putzen?
J.T. stützte seine Ellbogen auf den Schreibtisch und legte die Stirn in seine Hände. Während er langsam ausatmete, schüttelte er fassungslos den Kopf. Was fiel ihm nur ein? Das hier war ein Stall. Hier musste man nicht putzen.
Mit einem Seufzer nahm er sich die Bibel, bevor er es sich wieder anders überlegen konnte.
Herr, ich weiß nicht, was du mich heute lehren willst, aber ich bitte dich um Weisheit, damit ich es erkenne, wenn ich es sehe.
J.T. blätterte durch das Buch, bis er zu den Sprüchen Salomos kam. Er schlug das letzte Kapitel auf und fing an zu lesen. Am Anfang erregte nichts Besonderes seine Aufmerksamkeit, außer, dass Lemuël gewarnt wurde, seine Kraft nicht bei den Frauen zu lassen. Seit Jahren war J.T. ein fester Verfechter dieser Überzeugung. Doch seine Überzeugung fing an zu bröckeln, als er bei Vers neunzehn angekommen war und die Stoffe der tatkräftigen Frau erwähnt wurden. Und ab Vers zwanzig verließ sie ihn ganz.
„Sie erbarmt sich über die Armen und gibt den Bedürftigen, was sie brauchen. Den kalten Winter fürchtet sie nicht, denn ihre ganze Familie hat Kleider aus guter und warmer Wolle. Sie fertigt schöne Decken an, und ihre Kleider macht sie aus feinen Leinen und purpurroter Seide.“
Feines Leinen? Seide? Würde eine bescheidene Frau nicht schlichte Kleider tragen? Doch das Wort Gottes sagte eindeutig, dass diese Frau, die so hoch gelobt wurde, wertvolle Gewänder trug.
Und beim Weiterlesen wurde es sogar noch schlimmer.
„Sie näht Kleidung aus wertvollen Stoffen und verkauft sie, ihre selbst gemachten Gürtel bietet sie den Händlern an.“
Sie trug nicht nur elegante Kleidung, sie verkaufte sie auch noch an andere. Genau wie Hannah. Und die Bibel stellte es als ehrenhaft und lobenswert hervor.
Natürlich gab es noch mehr, was eine gute Frau ausmachte. Sie war unermüdlich, freundlich, fleißig, angesehen. Sie war eine gute Haushälterin, kümmerte sich um die Belange anderer und ehrte den Herrn. Und genau das schien alles auf Hannah Richards zuzutreffen.
Wie konnte er Hannah für ihren Beruf verurteilen, wenn sogar die Bibel diese Arbeit offenbar als leuchtendes
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