Eine Leiche zum Nachtisch (German Edition)
suchten, was ihm Halt geben konnte. Dabei blickte er nach unten. Doch was er dort erblickte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Im weißen Schnee in der Schlucht lag ein Körper. Er trug einen roten Anorak und rührte sich nicht. Lukas.
Simon schloss die Augen. Sein Herz raste. Nicht nur aus Angst, gleich ebenfalls in der Tiefe der Schlucht zu zerschellen, sondern auch aus Entsetzen über seine Entdeckung. Sein Freund war tot. Er musste schon seit Stunden in dem Abgrund liegen, zu dem ihn jemand mit Gewalt geschleift hatte. Während Simon nach ihm im Hotel und auf der Piste gesucht und über ihn geschimpft hatte, war er hier einsam und allein gestorben. Ein schreckliches Ende.
Doch Simon musste sich zur Ruhe mahnen und einen kühlen Kopf bewahren. Keine Tränen jetzt, die konnte er später vergießen. Denn wenn er nicht aufpasste, lag er gleich neben Lukas.
Simon öffnete die Augen und sah plötzlich in die gelben Augen des Luchses. Sie waren direkt über ihm und starrten ihn an. Das Maul war leicht geöffnet, durch den Backenbart wirkte das Tier, als würde es grinsen.
Simon erwartete, dass der Luchs jetzt zubeißen würde, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen rutschte Simon ein weiteres Stück nach unten. Die Wurzel gab nach. Der Luchs zog den Kopf wieder ein. Offenbar hatte er erkannt, dass sein Abendessen geradewegs in den Abgrund glitt.
Noch steckte die Wurzel mit ein paar Verzweigungen in der gefrorenen Erde fest, während Simon unablässig versuchte, mit seinen Füßen Halt im Stein zu finden. Doch lange würde sie das nicht durchhalten, immer weiter riss er sie aus dem Boden. Bald würde er sie komplett in der Hand halten. Kurz bevor Simon dem überwältigenden Gefühl der Angst nachgeben und einen lauten Schrei ausstoßen wollte, hatte er Glück. Er fand tatsächlich einen winzigen Vorsprung, auf den er sich mit einem Fuß abstützen konnte. Der Druck auf die Wurzel ließ nach. Dankbar zog sie sich in die zerstörte Erde zurück. Mit dem anderen Fuß suchte Simon jetzt auch Halt, und hatte wieder Glück. Er fand eine Vertiefung im Stein, in die er seinen Fuß stellen konnte. Nun suchten auch seine Hände nach mehr Halt, als die Wurzel ihm geben konnte. Er fand einen weiteren Vorsprung, an dem er sich festhalten konnte. Jetzt war er erst einmal sicher vor dem Absturz. Aber es bedeutete nur einen kleinen Aufschub. Er konnte nicht stundenlang hier ausharren. Es war eiskalt und er trug nur seinen Anzug. In wenigen Minuten würden seine Hände so kalt sein, dass er nichts mehr spüren konnte. Er musste unbedingt sofort wieder hochklettern, wenn er überleben wollte.
Vorsichtig tastete er mit seiner freien Hand die Felswand ab. Er fand nichts. Es war so dunkel, dass er nichts sehen konnte und auf seinen Tastsinn angewiesen war. Noch einmal befühlte er nach und nach jeden Zentimeter, um etwas zu finden, das ihm Halt geben würde, so dass er nach oben klettern konnte. Inzwischen erschwerte die Eiseskälte der Nacht jede seiner Bewegungen. Seine Beine begannen zu zittern. Seine Finger wurden steif.
Schließlich ertastete er eine schmale Ritze. Er schob seine Finger hinein und zog sich vorsichtig nach oben, während seine Füße nach Unterstützung suchten. Sein rechter Fuß fand kurz darauf einen weiteren Felsvorsprung, während der linke nutzlos in der Luft baumelte. Doch Simon war ein paar Zentimeter nach oben geklettert. Und nun das Ganze noch einmal. Wieder suchte eine Hand nach Halt, während sein Körper immer steifer und kälter wurde. Unbarmherzig kroch die Kälte unter seinen Anzug, kniff in sein Gesicht und die Hände. Doch Simon gab nicht auf. Mühsam, Zentimeter für Zentimeter, arbeitete er sich nach oben, bis seine Arme wieder auf der Ebene lagen. Er erwartete, den Luchs zu sehen, doch der war verschwunden. Wahrscheinlich kannte er einen sicheren Weg nach unten in die Schlucht, wo er jetzt auf Simon wartete.
Simon krallte seine tauben Finger tief in den gefrorenen Boden unter dem Schnee, bis er etwas Halt fand, und zog sich nach oben. Als er endlich festen Boden unter den Füßen hatte, holte er erschöpft Luft und fiel auf die Knie. Doch es blieb keine Zeit für eine Erholungspause. Wieder hörte er in einiger Entfernung das Fauchen des Luchses. Schnell sprang Simon auf und rannte zurück zum Hotel. Er musste sich beeilen. Wenn der Luchs ihm folgte, hatte er keine Chance – in diesem Zustand schon gar nicht.
Simon rannte so schnell er konnte. Es war nicht leicht in dem tiefen
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