Eine Leiche zum Nachtisch (German Edition)
Druck des Eises, zersplitterten in tausend winzige Splitter, die sich in die Erde bohrten und in die Haut der wagemutigen Wanderer. Die Stufen, die vom vielen Benutzen stumpf und rund geworden waren, wurden zur tödlichen Falle für denjenigen, der auch nur einen Bruchteil einer Sekunde unachtsam war und ins Rutschen geriet. Das Rauschen der Wasserfälle war verstummt, da sie zu Eis erstarrt waren und im scharfen Wind immer dicker und kälter wurden. Die weiche Erde neben den Wegen gab es nicht mehr, stattdessen lag eine dicke Schicht Schnee über allem. Der Schnee verdeckte die Wege, lag wie eine Mütze über Wegweisern und Hinweisschildern und verbarg ihre Botschaften. Die Schuhe der Wanderer hinterließen nur sehr kurzzeitig Spuren auf den Wegen, da der Wind den Schnee sofort wieder verwehte und alles verwischte. Wer jetzt wandern ging, hatte sich in dicke Schichten Kleidung eingehüllt, damit kein Windhauch die Haut berührte und frieren ließ. Die Ohren waren von Ohrenschützern verdeckt, auf den Nasen saßen Sonnenbrillen. Aber die Wanderer waren im Winter sowieso in der Unterzahl, denn im Winter wimmelte der Berg von Skifahrern. Diese ließen sich mit dem Skilift hinaufziehen und zischten danach frei und mühelos die Pisten hinunter. Wieder und wieder, bis die Sonne unterging und den Berg in Dunkelheit hüllte. Oder bis ein Sturm aufzog und die Piste in Wolken packte, den Schnee aufwirbelte und die Wipfel der Kiefern zu Boden drückte.
Der Wind wuchs im Winter oft zu einem Sturm an und peitschte gnadenlos über Felsen und Wege. Er riss Bäume aus, entwurzelte Sträucher und Büsche und deckte Häuser ab. Dort oben am Berg, wo es keine Bäume und Sträucher mehr gab, fauchte er ungehindert über die Ebenen und riss sogar Steine und Felsen mit, um seine Kraft austoben zu können. In manchen Nächten heulte er um die Häuser am Berg wie ein böser Geist, der Einlass in die warmen Wohnungen und Hotels sucht, wo jetzt eine andere Art von Touristen Urlaub machte. Im Winter gab es kaum kleine Kinder oder wanderfreudige Rentner. Der Winter war die Zeit der frischverliebten Pärchen, der Freunde aus Universitäten und Schulen, von Familien mit halbwüchsigen und erwachsenen Kindern und der Sportbegeisterten. Die tummelten sich dann auf den Pisten, nutzten die Skilifte und Skischulen und fanden sich oftmals in den Krankenhäusern im Tal mit gebrochenen Beinen und zersplitterten Armen wieder. Jeden Tag blieben zerbrochene Ski oder Skistöcke auf dem Berg liegen und verschluckte der Schnee den Ruf nach Hilfe oder Schmerzensschreie. In jeder kalten Winternacht legte sich eine neue Schneeschicht auf die Spuren eines Unfalls oder des Rettungshubschraubers. Im Winter war der Berg gnadenlos. Wer die Regeln nicht kannte oder nicht befolgen wollte, bekam die Quittung. Als wüsste der Berg, dass er im Winter unbezwingbar war, ließ er jeden scheitern, der sich nicht den Bedingungen anpasste. Er sah es nicht ein, sich den Menschen unterzuordnen, denn er hatte schon lange existiert, bevor es Menschen gab, ja sogar vor den Säugetieren. Der Berg hatte Millionen Jahre von Einsamkeit erlebt, er hatte die Evolution auf seinem eigenen Grund und Boden miterlebt, die Eiszeiten, die Nutzung des Feuers und der ersten Werkzeuge und Waffen. In seinen Höhlen hatten sich Steinzeitmenschen versteckt, seine Wälder fielen der Bauwut des Mittelalters zum Opfer, und auf seinen Wiesen weideten die Herden der Großbauern im beginnenden Zeitalter der Industrie. Er hatte miterlebt, wie Wege in seine Oberfläche geritzt wurden, Stufen in seine Felsen geschlagen, Bäche verlegt und Beton- und Stahlmasten errichtet. Er hatte gesehen, wie Lawinen Skifahrer unter sich begruben und erstickten. Wie rollende Felsbrocken Menschen und Kühe erschlugen und Schlittenfahrzeuge wimmernde Verletzte nach unten ins Tal brachten. Rettungshubschrauber hatten mit ihrem Wind seine Erde gekitzelt, und das Knattern des Funkgerätes auf der Station am Gipfel hatte seine Ruhe gestört.
Der Berg hatte all das gesehen, und es hingenommen. Der Berg leckte seine Wunden und scherte sich nicht um einzelne Schicksale, er scherte sich nur um sein eigenes. Und wer mit ihm leben wollte, musste seine Regeln befolgen.
Als Simon Neumayer aus seinem Hotel trat, hatte er keinen Blick für die Klarheit der Nacht und für das Glitzern des Schnees auf dem Berg. Er stiefelte zur Garage des Hotels, wo Schneepflug und Schneemobile untergebracht waren. Dort nahm er sich eines der Schneemobile
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