Eine Liebe zu sich selbst, die glücklich macht (German Edition)
Selbstmissverständnis erklären? Schließlich hatten wir alle gehofft, dass gerade die Frauenfrage genauso wie die Vergangenheitsarbeit in einem expressis verbis antifaschistischen Staat ein Stück weiter vorangetrieben worden sei als im Westen, so dass der Austausch zu diesen Fragen einiges versprach. Aber der real existierende Sozialismus war eine Diktatur mit autoritären Verhaltenszwängen und eben leider nicht das erhoffte säkularisierte Urchristentum; er förderte weder Einfühlungs- und Leidens- noch Liebesfähigkeit. Männer waren – wie gehabt – im Besitz der Macht, Paranoia und Sündenbocksuche beherrschten den Alltag. Es ist daher kaum verwunderlich, dass »in der ehemaligen DDR (auf-)taut, was 45 Jahre unter einem staatlich verordneten Antifaschismus eingefroren war. Nationalismus, Rechtsradikalismus und Antisemitismus erwachten zu neuem Leben.« [109] Obwohl der Rassismus nicht nur in der ehemaligen DDR ein ernst zu nehmender Faktor ist, so ist doch nicht die Rückkehr eines rassistischen Antisemitismus die eigentliche Gefahr, sondern die Relativierung, Neutralisierung und Minimalisierung der nach dem Dritten Reich erfolgten offiziellen Abkehr von antisemitischen deutschen Traditionen und deren schleichende Re-Integration in die politische Kultur der Bundesrepublik.
Wenn Verleugnung, Verdrängung, Derealisierung der Vergangenheit an die Stelle des Durcharbeitens treten, ist eine zwanghafte Wiederholung des unbegriffenen Geschehens unvermeidlich, auch wenn sie sich kaschieren lässt. Es wiederholt sich dabei nicht der Inhalt eines Systems, sondern die Struktur gesellschaftlicher Vorgänge. Nazisymbole und Nazivereinigungen kann man verbieten. »Nazistrukturen« – wie den autoritären Charakter, der sich vom Zweiten Reich über das Dritte bis heute bei uns wie in der Ex-DDR erhalten hat, ohne dass wir uns seines Einflusses wirklich bewusst geworden sind – lassen sich aus der Welt der Politik, der Erziehung, des Verhaltens, der Umgangsformen und Denkweisen so leicht nicht vertreiben. Nur durch die Arbeit des Erinnerns kann man sich bewusst von den dehumanisierenden Faktoren autoritärer deutscher Gesellschaften befreien, die in Auschwitz ihren furchtbaren Höhepunkt erreichten.
Bei der Art von Erinnerungsarbeit, über die ich hier spreche, handelt es sich nicht nur um die Vergewisserung über Fakten und Inhalte der Vergangenheit, sondern vor allem auch um die Erinnerung an Verhaltensweisen und Überzeugungen, an Gefühle und Phantasien. Nur so kann man sich der Vorurteile, der Rollenfixierungen, des gesamten Abwehrsystems, das uns beherrschte und oft weiterhin beherrscht, bewusst werden.
Um Verluste, nicht nur von Menschen, sondern auch von »Werten«, was immer einen zumindest zeitweiligen Verlust des Selbstwertes einschließt, hinnehmen und durcharbeiten zu können, ist ein Lernprozess besonderer Art vonnöten, der in traditionell autoritären Staaten gewiss nicht gefördert wird. Wenn neuer Nationalismus am Horizont der wiedervereinigten Deutschen auftaucht, ist es mit diesem Lernprozess schlecht bestellt. Wer auf nationale Selbstüberhöhung, Herrschafts- und Gehorsamkeitsideologie, Verachtung Andersdenkender oder Ausgelieferter, auf Fremdenhass oder Gesinnungssäuberung gedrillt wird, ist gewiss nicht darauf vorbereitet, einer Mentalität der Intoleranz und Inhumanität eine andere einfühlsamere, wertkritische, von falschen »Idealen« Abschied nehmende, eben zur Trauer fähige Geisteshaltung entgegenzusetzen. Auch die Fähigkeit, verlieren zu können, ist eine Vorbedingung für die Fähigkeit zu trauern.
Dass die junge Generation heute – Ost wie West –, die nicht an den Verbrechen der Nazideutschen teilgenommen hat, sich nicht schuldig fühlt, ist verständlich. Wenn diese Generation sich jedoch gegen die Erkenntnis wehrt, dass sie – ob sie will oder nicht – Erbe einer historischen Schuld ist, bleibt sie unfähig, aus der Geschichte zu lernen und sich mit Verlusten zu konfrontieren. Wenn sie die Verleugnung und Verdrängung ihrer Eltern und Großeltern übernimmt, wird sie auch deren Unmündigkeit und geistige Starrheit übernehmen. Ich bin gespannt, wie sich der Umgang mit der Vergangenheit, der Umgang mit den Stasi-Akten gestalten wird: Erinnerung, Einfühlung und Hilfe für die Opfer so viel und so weit wie irgend möglich, ja, aber bitte keine Hexenjagd.
Ich fasse zusammen:
Trotz der zahlreichen Beweise und Beispiele einer persistierenden Unfähigkeit zu trauern in Ost und
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