Eine magische Begegnung
Wiese.
“Es kommt darauf an, wie weit sie gewillt sind, sich von ihren Fressnäpfen zu entfernen.” Sie machte den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Im Schatten der Bäume war es immer noch kalt. Obwohl der Frühling in den Bergen wunderschön war, konnte es hier gelegentlich ein paar Grad weniger haben als drüben im Silicon Valley.
“Dann wundert es mich, dass Fluffy überhaupt das Haus verlassen hat.” Sich zu unterhalten hinderte Tanner nicht daran, schnellen Schrittes weiterzumarschieren.
“Das hat Einstein auch gesagt.” Einstein war ihnen davongeprescht und nur hier und da zwischen den Bäumen wieder aufgetaucht. Hin und wieder hatte sie ihre Pfote in ein paar Eichhörnchenlöcher gesteckt – doch ohne nennenswerten Erfolg.
Lili konnte es kaum glauben, dass Tanner seiner Tochter und Roscoe erzählt hatte, was der Kater gesehen hatte. Tja, so war es nun mal im Leben. Sie hatte sich entschieden zu handeln, und plötzlich lief alles so, wie sie es sich gewünscht hatte. Natürlich war ihr klar, dass das nicht bedeutete, dass Tanner an ihre Fähigkeiten glaubte, aber es war zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Vielleicht glaubte er wenigstens, dass die Möglichkeit bestand, dass das Unwahrscheinliche unter Umständen doch möglich sein
könnte
.
Sie hätte sich gern noch mit Fluffy unterhalten, bevor sie mit Tanner losgezogen war, doch der Kater hatte nichts davon wissen wollen. Er hatte den ganzen Vormittag eingeklemmt zwischen einem Küchenschrank und dem Herd gekauert und sich nicht bewegen lassen herauszukommen. Lili hatte also nicht mehr Informationen als das Bild einer Eiche und einer Wiese, die von Wald umgeben war. Aber welcher Baum unter all diesen vielen Bäumen war der richtige?
“Wann hast du eigentlich angefangen, mit Tieren zu reden?”
Lili nahm an, dass er auf diese Frage gekommen war, weil sie Einstein erwähnt hatte. “Als ich sieben Jahre war. Damals ist mir zumindest aufgefallen, dass nicht alle Menschen mit Tieren reden.”
“Aha? Wie war das genau?”
Sie war überzeugt, dass es Tanner eigentlich nicht wirklich interessierte, aber das machte nichts. Sie würde ihm die eine oder andere Geschichte erzählen und dann geschickt Erikas Problem ins Gespräch einfließen lassen. Ein ausgezeichneter Plan. Kate wäre stolz auf sie. “Meine Wüstenrennmaus hat ihre Jungen aufgefressen. Am Morgen waren sie noch alle da, und am Nachmittag haben plötzlich drei gefehlt. Als ich mit ihr geschimpft habe, dass es entsetzlich ist, die eigenen Jungen zu fressen, hat sie mich angepflaumt, dass ich mich besser um meinen eigenen Kram kümmern soll.”
Er blieb so abrupt stehen, dass sie beinahe in ihn – beziehungsweise seinen Rucksack – hineingerannt wäre. Zwei Sekunden lang stand er völlig regungslos vor ihr, dann drehte er sich um. Trotz ihrer Wanderstiefel musste sie den Kopf leicht in den Nacken legen, um ihm in die Augen sehen zu können.
“Das ist nicht dein Ernst, oder?”
“Ich würde nie einen Witz darüber machen, dass meine Rennmaus ihre Kinder gefressen hat. Außerdem hat mich dieser Vorfall damals ziemlich geschockt. Aber dann habe ich eingesehen, dass es eben die Natur der Dinge ist.”
“So ähnlich wie bei Bigfoot, der dich zum Abendessen vernascht?”
“Genau.” Tanner war wie Kate. Er vergaß kein Detail, das man ihm erzählte. “Rennmäuse fressen häufig ihre Jungen. Hamster tun es auch.”
“Was hast du mit deinem kleinen Kannibalen gemacht?”
“Als ich dann über diese angeborene Neigung Bescheid wusste, habe ich die Mäusebabys in einen eigenen Käfig gegeben.”
Er schüttelte den Kopf. “Ich kann nur sagen, dass ich wahnsinnig froh bin, dass ich Erika nie eine Rennmaus geschenkt habe.” Tanner marschierte wieder weiter und rief ihr die nächste Frage über die Schulter zu: “Was haben deine Eltern von der ganzen Sache gehalten?”
“Anfangs waren sie der Meinung, dass ich bestimmt einmal ein Buch schreiben und den Nobelpreis gewinnen würde, weil ich so unglaublich viel Fantasie habe. Als ich dann später beschlossen habe, nicht einmal aufs College zu gehen, waren sie natürlich sehr enttäuscht.” Lili bemühte sich, den Blick ausschließlich auf seinen Rücken gerichtet zu lassen. “Glaubst du,
jeder
Mensch muss unbedingt aufs College?”
Er lief eine Weile stumm weiter, bevor er antwortete: “Nicht unbedingt, aber es hilft, im Leben voranzukommen.”
Lili vermutete, dass er so lange für seine Antwort gebraucht hatte, weil
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