Eine Messe für die Stadt Arras
eigene Gerichte und eine eigene Gerechtigkeit. Auf Fürst David bauen heißt nicht nur, sich seinem Schutz anvertrauen, sondern auch die Rechte an ihn abtreten, die unser Reichtum sind. Selbst wenn wir nicht gerecht sind, so geschieht es doch nach unserem Maß und auf unsere Rechnung. Ihr sagt, man muß David vertrauen… Recht so! Wer vertraut ihm denn nicht? Wo gibt es solche in der Stadt? Aber das Vertrauen zum Fürsten darf nicht das Vertrauen durchstreichen, das wir auf uns selber setzen. Davids Begriff von Gerechtigkeit ist, so könnte man sagen, wie David selber. Gott ist immer so wie der Mensch, der an ihn glaubt. Denn Gott – das ist, wie ihr wißt, die Sehnsucht nach Wahrheit, nach Liebe, nach Erhabenheit. Gott ist unsere bessere Qualität, und der Glaube an ihn stellt den Weg zu Vollkommenheit dar. Aber etwas anderes ist meine bessere Qualität – und wieder etwas anderes die eines fremden Menschen! Jeder hat seine eigenen Maßstäbe…«
Sie lauschten mir mit einer gewissen Verblüffung, ja sogar mit einem Funken Bangigkeit. Ich selbst spürte den lästerlichen Unterton in meinen Worten, aber ich redete weiter im vollen Vertrauen darauf, daß ich für eine gute Sache in die Schranken trete und mit der Gnade des Himmels rechnen durfte, wenn ich das mir gesteckte Ziel erreichte.
»Wann sind wir Gott nahe? Dann, wenn unser Gewissen rein ist. Wahrhaftig, das Nichtwissen um eine Sünde öffnet sogar den Sündigen die Himmelspforten. Wenn ich etwas Böses tue, dabei aber annehme, daß ich gut handele, dann handele ich gut. Doch wenn ich gut handele und glaube, daß ich sündige – dann sündige ich. Die Kirche Gottes lehrt uns, was gut und was schlecht ist, und weist uns den Weg zur Erlösung. Gott selber aber tragen wir in unseren Herzen. Und ich sage euch, daß niemand meinen Gott kennt und ich keinen anderen Gott kenne außer dem meinen. Ich bin ich, eben dank der Tatsache, daß ich meinen Gott habe, der nicht der Gott anderer Leute ist. Obschon er gleichzeitig der einige, allgegenwärtige Gott ist… Was also wollt ihr? Daß der Fürst der Stadt seine Mutmaßungen und Anschauungen, sein Gewissen und sein Gefühl für Gerechtigkeit aufzwingt? Reicht es der Stadt Arras nicht zu einem eigenen Gewissen? Hat Gott keine Herberge in unseren Herzen, und bemühen wir uns nicht, mit ihm nach unserem Maß – das heißt gerade so, wie es ihm gefällt – zu verkehren? Wir sind so, wie Gott uns gemacht hat. Und Gott hat Wohlgefallen daran, daß Arras so ist, wie es ist – weder besser noch schlechter, weder dümmer noch klüger… Unser Leben ist ein Geheimnis. Es bildet die Bundeslade zwischen uns und Gott. Was soll uns ein Fremder? Sie sind uns nur insofern notwendig, als wir unserer Ablehnung Ausdruck geben können. Alles, was wir tun, ist nämlich Ablehnung, ist Negation. Jeder von uns leugnet, er selber zu sein. Man selber zu sein bedeutet – ununterbrochen zu rufen, daß man nicht jemand anderes ist. Ehrlich gesagt, wenn der Fürst hierherkäme, bestünde der einzige Weg zur Verwirklichung unserer Identität darin, daß wir ihm, dem Fürsten, nicht unterliegen! Woher kommt euch die Überzeugung, daß Glaube und Gerechtigkeit Davids besser sind als die unsrigen? Ja, und selbst wenn sie besser sind, so sind sie eben nicht die unsrigen. Und sofern sie nicht die unsrigen sind, können sie nicht unseren Glauben und unsere Gerechtigkeit bilden. Sie verkehren sich in ihr Gegenteil, ihre Negation, werden zu Zweifel und Ungerechtigkeit. Wenn David hierherkommt und Gericht hält, verliert Arras sich selbst. Nach Gent zurückkehrend, nimmt der Fürst alles mit sich, was über unsere Existenz entscheidet. Wir aber bleiben zurück, in ein Netz von Unschlüssigkeit, Unrecht und Bösem verstrickt, selbst wenn einige an der Illusion festhalten werden, daß die Gerechtigkeit und der Glaube des Fürsten sie gebessert haben. Ich sage euch noch einmal: Wer sich seiner Rechte begibt und seinen Glauben an Fremde abtritt, indem er diesen die Suche nach Gott überantwortet, der verzichtet aufs eigene Heil…«
Sie hörten mich mit Zittern und Zagen. Ich selber bangte, ob ich nicht zu weit gegangen war. Aber immerhin hatte ich Zweifel in ihre Herzen gesät; denn als ich geendet hatte, sagte der, der Vogt bei Herrn de Saxe war:
»Nun ja, über gewisse Dinge habe ich bisher noch nicht so richtig nachgedacht. Das, was wir eben vernommen haben, halte ich für sehr interessant. Es ist schon so, daß der Fürst aus unserer Bitte allzu
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