Eine Messe für die Stadt Arras
weitreichende Folgerungen ziehen könnte. Wir aber besitzen wohl selber so viel Rechtsempfinden, um uns hier mit dem Schicksal zu messen – in unseren Mauern, ohne Fremde, selbst wenn sie so würdig sind wie unser Herr, der Bischof von Utrecht. Was die Sache selber angeht, so bleibt sie auch fernerhin unentschieden. Es gibt kein Wort, das Celus das Leben wiedergeben könnte. Trotzdem sollten alle Einzelheiten gründlichst geprüft werden. Herr Albert hat nicht gehandelt, wie es seine Pflicht gewesen wäre, und darüber sollte er uns Rechenschaft geben. Wir hegen Achtung und Liebe für Herrn Albert, aber wenn der Fürst nicht unser Stellvertreter sein kann, dann darf sich auch Herr Albert dieses Recht nicht anmaßen. Möge er also der Stadt den Fall übertragen, und die Stadt wird befinden, ob sich der Jude Celus eines Verbrechens schuldig gemacht hat oder nicht.«
Als der Vogt zu Ende gesprochen hatte, pflichtete ihm die Mehrzahl der Versammelten bei. Es gab aber auch solche, die verdrießlich von dannen zogen und sich beklagten, daß man sie überrumpelt habe.
Mit diesem Tag nahm in Arras ein außergewöhnlich demokratisches Regiment seinen Anfang. Albert, der nun sicher sein durfte, daß ihm kein bischöflicher Besuch mehr drohte, ließ mit Freuden Plebejerstimmen zum Rat zu. Alle übrigen hießen den neuen Status ohne Grimm gut, wenn auch mit einem Fünkchen Spott. Herr de Saxe sagte noch an demselben Abend zu mir:
»Siehe da, das jüdische Blut hat also die braven Christen geeint… Es ist nun mal das beste Bindemittel für unsere Stadt. Schade nur, daß es in der Ratsstube jetzt nach Mist und Rohwolle stinkt.«
Albert jedoch verkündete würdevoll und im Brustton der Überzeugung, der sogar mich in Erstaunen setzte, daß es eine gute Tradition in Burgund sei, dem einfachen Volk das Ohr zu leihen, und daß nichts Absonderliches darin liege, wenn von heute an Bürger aller Stände im Rat säßen; denn so sei es bereits in früheren Zeiten gewesen, als Herzog Jean das Blut derer von Armagnac vergossen habe, um den Armen zu gefallen.
Das klang wunderschön. Die Bürger der Stadt verbeugten sich tief vor Albert, vor dessen Angesicht sie standen. Und nur de Saxe knurrte:
»Irgend etwas stinkt hier… Aber es ist ein ehrwürdiger, väterlicher Mief – daran merke ich, daß es ein hochwohlgeborener Hintern war, der die Luft verpestet hat.«
I M N AMEN DES V ATERS UND DES S OHNES UND DES H EILIGEN G EISTES. A MEN . Von da an begaben sich in Arras wunderliche Dinge. Ich behaupte durchaus nicht, daß man das der Initiative der städtischen Zimmerleute, Tuchmacher und Schmiede zuschreiben muß, die nun im Rat saßen. Dennoch war es eben ihre Anwesenheit und Teilnahme, die ganz neue Perspektiven eröffneten. Man könnte sagen, daß in der Stadt etwas geschah, was wir bisweilen in der Natur beobachten.
Zur Herbstzeit kommen in Artois häufig böige Winde auf. Die einen wehen vom Meer tief ins Land hinein und sind von Feuchtigkeit gesättigt. Die anderen wiederum stürmen heulend von den waldigen Hügeln herab, die sich bis Paris erstrecken, und diese Winde sind ungewöhnlich trocken. Über den Feldern von Artois treffen sie aufeinander und fegen brausend dahin. Regen kann daraus entstehen und herbstliches Schmutzwetter mit stickigen Nebelschwaden, die sich vom Morgengrauen bis in die Nacht hinein über die Stadt legen; es kann auch klares, freundliches und sogar ein wenig frisches Wetter folgen. Doch manchmal passiert es, daß der Wind vom Meer den Gegenwind gewaltsam in sich aufnimmt, dann stürzen Regengüsse auf die Stadt nieder, Wasserfluten überschwemmen die Straßen, und die Bäume verlieren innerhalb weniger Augenblicke ihre letzten Blätter. Oder aber jener andere äußerst trockene Wind saugt die ganze Kraft in sich auf – dann herrscht ein paar Tage lang drückende Schwüle, die um diese Jahreszeit äußerst unangenehm ist. Die Gärten welken in der Sonnenglut, die Weinstöcke werden versengt, und man kann sie nur noch als Viehfutter verwenden. Solange die Winde gegeneinander wehen, herrscht in Artois ein milder, wenn auch launischer Herbst. Doch laß nur den einen oder den anderen den Sieg davontragen, schon heißt es unbarmherzig zahlen für diesen Mangel an Gleichgewicht!
Ähnliches geschah in Arras, seit die Einfalt im Rat saß. Plötzlich fehlte das unabhängige Element der Straße, das – gescheit oder töricht – auf eine gewisse Weise die Beschlüsse des Rates milderte. Soweit mein Gedächtnis
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