Eine Messe für die Stadt Arras
Wege dieses Greises und meine eigenen hatten sich getrennt – nicht jetzt, da ich an seinem Sterbebett saß, sondern schon viele Jahre früher. Wir beide wußten es. Nur daß er eine Illusion in sich genährt hatte und ich nicht!
Weiter ließ er nichts mehr verlauten. Er sah mich nur aus halbgeöffneten Augen an, und die Augen waren wie Steine, und diese Augen steinigten mich. Trotzdem hielt ich ihnen längere Zeit stand, dann verließ ich leise den Raum.
Noch an demselben Tag starb er, und die, die bis zum Ende bei ihm waren, berichteten, daß seine letzten Worte »Glauben und ausharren!« gewesen seien. Ebenfalls an demselben Tag ließ mich der Fürst rufen, und er fragte mich, was ich denn mit dem scheidenden Albert besprochen habe. Er schien sehr neugierig zu sein und vermochte diese Neugier nicht zu zügeln.
Und so sagte ich David:
»Euer Herrlichkeit, das war ein Gespräch über den Glauben.«
Der Bischof lachte höhnisch.
»Ich sehe euch zwei direkt vor mir, wie ihr da über Glaubensdinge schwatzt… Lieber Jean, sag mir die volle Wahrheit! War von mir die Rede?«
»Nein, Euer Herrlichkeit.«
Er sah mir prüfend in die Augen.
»Jean«, sagte er, »das ist sehr wichtig für mich. Also, sprich die Wahrheit.«
»Fürst«, erwiderte ich, »nie würde ich es wagen, Euch anzulügen. Glaubt mir, mit keinem Wort ward Ihr in jenem Gespräch erwähnt. Ob das gut ist oder schlecht – aber von Euch kein Wort!«
Der Bischof runzelte die Brauen; er wirkte enttäuscht.
Damals dachte ich, daß er doch wohl sehr gewünscht haben mochte, auf den Lippen des Sterbenden zu sein. Für einen Menschen wie David hatte das seinen Wert. Ich hingegen kann, bei Gott, eine solche Art Schwäche durchaus nicht begreifen.
I M N AMEN DES V ATERS UND DES S OHNES UND DES H EILIGEN G EISTES. A MEN . Meine Herren! Ich fasse jetzt kurz zusammen, was sich in Arras nach Ankunft des Fürsten David und dem Ableben des ehrwürdigen Vaters Albert zutrug. Viele Tage lang spielten sich ungewöhnliche Vorgänge ab, doch das wichtigste Ereignis war jener Sonntag, genannt der Sonntag des Vergebens und Vergessens, der Tag der großen Sündentilgung. Ich berichte also von diesem entscheidenden Geschehnis sowie von alledem, was sich daraus später ergab. Und eben damit ende ich mein Geständnis.
An diesem Sonntag wurden bereits seit den frühen Morgenstunden mannigfaltige Vorbereitungen getroffen. Ein windiger, aber heller Tag, wie es ihn manchmal gegen Ende des Herbstes gibt, war angebrochen. Flinke Wölkchen, ganz von Sonnenglanz durchstrahlt, huschten über den Himmel. Man spürte Kühle in der Luft, aber die Luft war überaus gesund und frisch. In allen Häusern kamen – keiner weiß, woher – Girlanden aus getrockneten Blumen zum Vorschein, blattlose Zweige, die man unterhalb der Mauer geschnitten hatte, und sogar eine Menge Kalmus sowie Wasserliliengerank, das von den Häusern herabhing wie Rattenschwänze. Unter den geretteten Juden herrschte reges Treiben. Die Ältesten hatten befohlen, die Straße zum Westtor, über die der Fürstbischof kommen sollte, zu weißen. David hatte nämlich bekanntgegeben, daß er die Gemeinde besuchen werde, was wohl seit undenklichen Zeiten zum ersten Mal geschah. Die Pforten der Sankt-Ägidius-Kirche standen weit offen und erstrahlten im Lichte ungezählter Kienspäne. Nicht Atemschöpfen konnte man hier, so beißend war der Geruch.
Auf den Mauern waren die Wappenbanner all unserer guten Fürsten erblüht. Da war das Banner Herzog Philipps und das des Fürsten David und auch das Banner König Louis’, des neuen Herren in Paris. Während wir in Arras mit dem Gewissen rangen, hatte Gott der Herr König Charles zu sich gerufen, und sein würdiger Sohn, vom Vater so sehr gehaßt, daß er sich in die Obhut Burgunds begeben und viele Jahre am Hof von Brüssel hatte durchleiden müssen, war endlich auf den französischen Kronbesitz zurückgekehrt, mit großer Post Herzog Philipps, der ihm an den Toren von Paris huldigte und ihm im Namen von ganz Burgund Freundesdienste anbot.
Arras sah überaus prächtig aus inmitten von all dem Grün, den Standarten und dem festtäglich gekleideten Volk. In den Kirchen läuteten die Glocken, und auf den Straßen wurden riesige Ochsen, Lämmer und Geflügel gebraten, mit denen David die Stadt beschenkt hatte. Aber ich muß bekennen, daß ich damals keine fröhlichen und glücklichen Gesichter gesehen habe. Da kehrte also der große Wagen in seine einstige Fahrspur zurück, um
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