Eine mörderische Hoch-zeit
Wir wussten bereits in einem Alter, in dem wir zu jung hätten sein sollen, um es zu wissen, wie grausam Menschen sein können. Dass Macht in den falschen Händen nicht nur korrumpiert, sondern regelrecht verstümmelt. Er – ich war auch schon mit anderen im Bett. Ich hatte Sex, aber niemals habe ich dabei etwas anderes als eine gewisse Entspannung empfunden. Ich konnte nie wirklich… intim sein«, schloss sie ihre Erklärung. »Ist das das passende Wort?«
»Ja, ich glaube, es ist genau richtig. Weshalb glauben Sie, haben Sie mit ihm Intimität erreicht?«
»Er hätte niemals etwas anderes zugelassen. Weil er…« Hinter ihren Augen sammelten sich Tränen und sie begann zu blinzeln. »Weil er etwas in meinem Inneren geöffnet hat, das ich verschlossen hatte. Nein, das vernarbt gewesen war. Irgendwie hat er die Kontrolle über diesen Teil von meiner Seele übernommen oder ich habe ihm die Kontrolle über den Teil überlassen, der erstorben war. Der getötet worden war, als ich noch ein Kind war und…«
»Sie werden sich besser fühlen, wenn Sie es aussprechen, Eve.«
»…mein Vater mich vergewaltigt hat.« Sie atmete zitternd aus und mit einem Mal waren ihr die aufsteigenden Tränen vollkommen egal. »Er hat mich vergewaltigt und misshandelt und verletzt. Er hat mich benutzt wie eine Hure, als ich zu klein und schwach war, um ihn daran zu hindern. Er hat mich festgehalten oder sogar gefesselt, hat mich geschlagen, bis mir schwarz vor Augen wurde, oder mir die Hand auf den Mund gehalten, damit ich nicht schreien konnte, während er sich in mich hineingerammt hat, bis der Schmerz beinahe ebenso schlimm war wie der eigentliche Akt. Und es war niemand da, der mir hätte helfen können, und ich konnte nichts anderes tun, als darauf zu warten, dass er wiederkam.«
»Verstehen Sie, dass Sie keine Schuld an alldem tragen?«, fragte Mira Eve mit sanfter Stimme. Wenn eine Eiterbeule endlich aufbricht, dachte sie, muss man langsam und sorgfältig auch noch das letzte Gift aus ihr herauspressen. »Weder damals noch heute noch sonst zu irgendeiner Zeit?«
Eve fuhr sich mit dem Handrücken über die tränennassen Wangen. »Ich wollte Polizistin werden. Weil Polizisten alles unter Kontrolle haben. Sie halten die bösen Menschen auf. Es erschien mir einfach. Und als ich eine Weile Polizistin war, wurde mir bewusst, dass es Menschen gibt, die sich immer an den Schwachen und den Unschuldigen gütlich tun.« Ihr Atem ging wieder etwas ruhiger. »Nein, es war nicht meine Schuld. Es war seine Schuld, und die Schuld der Leute, die so getan haben, als würden sie nichts sehen und nichts hören. Aber trotzdem musste und muss ich damit leben, und um nicht daran kaputtzugehen, habe ich das alles so lange wie möglich verdrängt.«
»Aber Sie erinnern sich bereits seit längerem an diverse Dinge, nicht wahr?«
»Bruchstückhaft. An alles, was passiert ist, bevor ich im Alter von acht in der Gosse aufgelesen wurde, habe ich mich stets nur bruchstückhaft erinnert.«
»Und jetzt?«
»Jetzt fällt mir immer mehr, jetzt fällt mir viel zu viel ein. Und es ist viel klarer und viel näher als jemals zuvor.« Sie fuhr sich mit der Hand über den Mund und zwang sie dann entschieden zurück in ihren Schoß. »Ich sehe ein Gesicht. Früher konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Während des Falls DeBlass im letzten Winter – ich schätze, es gab einfach so viele Parallelen, dass es >Klick< gemacht hat. Und dann war da Roarke, und die Erinnerungen kamen zunehmend deutlicher und häufiger zurück. Ich konnte nichts dagegen tun.«
»Wollen Sie das denn?«
»Wenn ich könnte, würde ich diese acht Jahre ganz aus meinem Gedächtnis streichen«, erklärte sie mit einer Inbrunst, die sie auch empfand. »Sie haben nichts mit der Gegenwart zu tun. Ich will nicht, dass sie etwas damit zu tun haben.«
»Eve, so schrecklich und so obszön diese acht Jahre auch waren, haben sie Sie doch geprägt. Sie haben dazu beigetragen, dass Sie eine solche Stärke, ein solches Mitgefühl für unschuldige Menschen, ein solch komplexes Wesen und eine solche Zähigkeit besitzen. Die Erinnerung und der Umgang mit der Erinnerung wird Sie nicht verändern. Ich habe Ihnen ein paarmal empfohlen, sich hypnotisieren zu lassen. Das tue ich jetzt nicht mehr, denn inzwischen glaube ich, dass Ihr Unterbewusstsein die Erinnerungen genau im richtigen Tempo von allein wieder auftauchen lässt.«
Wenn dem so war, wünschte sich Eve, es ginge möglichst langsam, damit sie trotz
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