Eine Nacht ist nicht genug
sie freundlich.
„Und jetzt kommt mit. Micaela hat den ganzen Nachmittag für euch in der Küche geschuftet.“
Sie gingen ins Speisezimmer und erzählten sich bei der Vorspeise alle wichtigen Neuigkeiten. Francine wollte demnächst an einer Wirtschaftsuni bei Paris studieren.
„Du hast in Oxford studiert, stimmt’s?“, fragte sie Luca.
„Ja. Mein Aufbaustudium habe ich dann in Harvard gemacht.“
Natürlich, dachte Emily. Er gehört zur Elite. Aber ich dagegen …
„Und wo haben Sie studiert?“, fragte Francine sie plötzlich.
„Gar nicht“, antwortete sie und versuchte, sich nicht minderwertig zu fühlen. „Ich habe gleich nach der Schule angefangen, im Verkauf zu arbeiten.“
„Im Verkauf?“
Was für ein Albtraum, dachte Emily und erwiderte: „Ja, als Verkäuferin. Sie wissen schon, den ganzen Tag auf den Beinen sein, Artikel präsentieren, Staub wischen und so weiter.“
Sie spürte Lucas Anspannung. Doch sollte sie ihre Vergangenheit leugnen?
„Ach so.“ Francine strahlte. „Ich gehe unheimlich gerne shoppen. Worauf waren Sie spezialisiert? Mode? Parfüms?“
„Leider nicht“, antwortete Emily lächelnd. „Zuerst habe ich in der Eisenwarenabteilung eines Discounters gearbeitet: billige Elektrowerkzeuge, Bohrer und Gartengeräte. Danach habe ich zwischen den verschiedenen Abteilungen gewechselt: Schuhe, Spielzeug, Möbel … und abends habe ich in einem CD-und DVD-Laden gearbeitet.“
So, jetzt wissen sie Bescheid, dachte sie. Ich gehöre nicht zur Elite und habe weder ihre Bildung noch ihre Weltgewandtheit. Stattdessen hatte sie Prioritäten gesetzt und hart gearbeitet: eine Waschmaschinenladung, bevor sie das Haus verließ, Mittagessen für Kate vorbereiten und auch ihrem Vater Essen hinstellen. In der Mittagspause nach Hause rasen, um die Wäsche abzunehmen und die nächste Ladung aufzuhängen, während das Mittagessen vor sich hin köchelte. Sie hatte das alles bewältigt, jahrelang. Und jetzt, da sie endlich frei war, fühlte sie sich leer, ausgehöhlt und fehl am Platze.
Pascal lachte leise und sehr freundlich. „In einem DVD-Laden haben Sie gearbeitet? Dann kennen Sie sich ja bestens mit Filmen aus.“
„Ich liebe Filme!“, fügte Francine begeistert hinzu. „Welches ist Ihr Lieblingsfilm?“
Emily blinzelte überrascht, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass die beiden sie akzeptieren würden – und dann auch noch interessiert wären.
„Was hätten Sie studiert, wenn Sie die Möglichkeit gehabt hätten?“, fragte Pascal später, der offenbar verstand, dass es die Umstände gewesen waren, die Emily daran gehindert hatten.
Zum ersten Mal kam Emilys Lächeln von Herzen. Aus einer Verteidigungshaltung heraus war sie bisher nicht sonderlich freundlich gewesen und beschloss, das nun zu ändern. „Wahrscheinlich Musik und Film.“
Als alle lachten, ließ die Anspannung spürbar nach. Sie sprachen über die Filme, die gerade im Kino liefen. Normalerweise hätte Emily sich entspannt und auf das Gespräch eingelassen, doch Lucas unheilvolles Schweigen hielt sie davon ab. Jedes Mal, wenn sie ihn anblickte und sein Stirnrunzeln sah, nahm ihre Anspannung zu.
Emily beschloss, sich auf das Gespräch mit der bildhübschen Francine zu konzentrieren. Sie fragte sie, welches die besten Boutiquen waren und welche Sehenswürdigkeiten man sich ansehen musste.
„Aber bestimmt zeigt Luca Ihnen doch das Beste, was die Stadt zu bieten hat?“, fragte Francine, die ja nicht ahnen konnte, welche Bedeutung ihre Worte hatten.
Emily sah Luca vielsagend an und erwiderte dann ruhig: „Er versucht es. Aber von manchen Dingen hat er keine Ahnung.“
Luca warf ihr einen kurzen Blick zu und presste unter dem Tisch das Knie gegen ihres, als wollte er sie warnen.
„Mach dir nichts draus, Luca“, sagte Pascal lachend. „Du kannst ja nicht in allem der Beste sein.“
Emily spürte, wie Luca sich mehr und mehr anspannte, und sah ihn lieber nicht mehr an, sondern unterhielt sich mit Pascal und Francine, während er schweigend neben ihr saß.
„Ich hoffe, es wird Ihnen schmecken“, sagte Micaela lächelnd, als sie den Nachtisch servierte. Emily fragte sich, warum die junge Frau sie dabei ansah.
Dann stellte sie fest, dass es dasselbe cremige Dessert war, mit dem Luca sie im Giardino Giusti gefüttert hatte. Den Löffel schon in der Hand, verharrte sie mitten in der Bewegung – aus Angst, die Erinnerung zu zerstören, falls das Dessert diesmal weniger köstlich schmecken
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