Eine Nacht wie Samt und Seide
»Dort könnten Sie den Schaden rasch reparieren, ohne sich den Weg durch den Ballsaal bahnen zu müssen.«
Sie waren am äußersten Ende des Saales; Pris schaute zu der Tür, dann betrachtete sie abwägend die Strecke zwischen ihr und der Ballsaaltreppe. »Ja, das wäre sicher am besten.«
Abercrombie-Wallace öffnete die Tür für sie, dann folgte er ihr. Er schloss sie wieder, sodass der Flur, auf dem sie nun standen, nur spärlich von einem Wandleuchter ein paar Schritt entfernt beleuchtet wurde. »Dort drüben.« Er deutete zu einer Tür, die ein Stück weiter lag.
Sie hielt ihren Rock mit dem beschädigten Unterrock in einer Hand, damit sie nicht darauftrat, und ging eilig dorthin. Wallace griff an ihr vorbei, um ihr die Tür zu öffnen.
Sie trat ein und vergewisserte sich mit einem Blick, dass der Raum tatsächlich leer war, ein kleiner Salon, der zum Garten hin lag. Die Spitze ihres Schuhes verfing sich in dem Stoffstück, sodass sie sie erst befreien musste, dann ließ sie den Rock fallen, um sich bei Abercrombie-Wallace zu bedanken und die Tür zu schließen.
Er war direkt hinter ihr - stand ihr dicht gegenüber. Die Tür war bereits zu.
Sie öffnete die Lippen, um ihn wegzuschicken, doch die Worte erstarben in ihrer Kehle, als er etwas aus seiner Tasche zog und ausschüttelte; ein langer schwarzer Schal entrollte sich.
Sie hob abwehrend die Hände, holte Luft und öffnete den Mund, um zu schreien.
Er bewegte sich blitzschnell und wand den Stoff um ihren Kopf und das Gesicht, sodass ihr Schrei erstickt wurde und sie beinahe auch. Sie bekam sogleich zu wenig Luft, musste darum ringen, durch das engmaschige Material zu atmen.
»Wenn Sie auch nur einen Funken Vernunft besitzen, sparen Sie sich Ihre Kräfte fürs Atmen.« Ein kaltes Wispern erklang an ihrem Ohr.
Blind, stumm und fast taub konnte Pris kaum ein Wort über ihre Lippen bekommen.
Er nahm ihre Hände, die ohnehin nutzlos waren, solange sie weder sehen noch hören oder sprechen konnte. Rasch fesselte er sie ihr im Rücken, dann schob er sie vor sich her. Er öffnete eine Tür; sie fühlte sich so desorientiert, dass ihr schwindelig wurde. Sie wankte, konnte nichts tun, als seinen Anweisungen zu folgen, trat über die Schwelle und spürte kalte Steine unter ihren dünnen Sohlen.
Der Walzer ging zu Ende. Dillon ließ seine Arme sinken und begleitete Flick zu dem Sofa zurück, auf dem Horatia und Eugenia saßen. Gutmütig ließ er sich von ihnen aufziehen, dann entfernte er sich und blickte sich unwillkürlich suchend im Saal um.
Er konnte Pris nirgends entdecken.
Er blieb stehen, schaute sich noch einmal um, diesmal sorgfältiger, gründlicher und versuchte dabei, Ruhe zu bewahren, sich einzureden, dass seine jäh alarmierten Instinkte unmöglich recht haben konnten, bis er etwas sah, das ihm das Herz stocken ließ.
Russ - er suchte die Gästeschar so wie er ab, zeigte dabei aber, anders als er, offene Sorge.
Als Dillon bei ihm ankam, runzelte Russ die Stirn. »Weißt du, wo sie ist?«, fragte er ohne lange Vorrede.
»Nein.« Dillon sah Russ in die Augen. »Ich glaube nicht, dass sie noch im Haus ist. Und du?«
Russ blinzelte, dann trat ein abwesender Ausdruck in seine Augen. Mit grimmig zusammengepressten Lippen schüttelte er kurz darauf den Kopf. »Ich kann sie ... nicht spüren. Aber es ist nur ein Gefühl. Vielleicht...«
Dillon schüttelte heftig den Kopf. »Sie ist nicht hier. Das weiß ich einfach.«
Wieder schaute er sich um. Sie standen nicht weit von den Stufen zur Haupttür entfernt. Von den anderen war niemand zu sehen.
Er lief die Stufen hoch, immer zwei auf einmal nehmend; Russ folgte ihm auf dem Fuße. Er durchquerte den Vorraum und rannte die Treppe in die Eingangshalle hinab.
Dort traf er auf Highthorpe.
»Haben Sie Lady Priscilla gesehen?«, fragte Dillon.
»Nein, Sir.« Highthorpe blickte zu seinem Untergebenen, der an der Tür stand, doch der Lakai schüttelte den Kopf. »Hier ist sie nicht gewesen.«
Dillon zögerte einen Moment, dachte nach und erwog verschiedene Möglichkeiten, dann fluchte er und ging nach draußen, die Eingangsstufen hinunter und auf die Straße. Elegante Kutschen säumten den Straßenrand, aber auf der anderen Seite ein Stück entfernt stand eine einzelne schwarze Kutsche, deren Vorhänge zugezogen waren, der Kutscher und ein Lakai saßen aufbruchbereit auf dem Bock. Dillon wandte sich in die andere Richtung und entdeckte eine Droschke, die offenbar auf Kundschaft wartete,
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