Eine Nacht wie Samt und Seide
»Was ist?«
»Ich habe ihn verloren«, rief der Kutscher. »Ich weiß, sie sind hier entlanggefahren, aber er ist irgendwo abgebogen.«
Nun fluchte auch Dillon und lehnte sich auf der rechten Seite aus dem Fenster. »Fahren Sie langsamer - wir suchen.«
Russ hing zum anderen Fenster heraus, während sie langsam weiterfuhren. Zunächst befand sich nur Westminster Abbey auf dieser Straßenseite, dann waren sie aber daran vorbei, und er spähte in die Nacht. Eine Straße zweigte vor ihnen ab. Als sie sich der Stelle näherten, fragte der Kutscher: »Soll ich trotzdem weiter nach Tothill fahren?«
»Warten Sie!« Russ starrte angestrengt in die Dunkelheit. »Da unten - sind sie das?«
»Ja, das ist er!« Der Kutscher lenkte sein Pferd in die Straße.
»Rechts vor uns«, rief Dillon.
»Ich sehe ihn.« Der Fahrer fuhr zu schnell in die Kurve und musste langsamer werden, sich korrigieren. Dann fluchte er wieder. »Sie sind wieder verschwunden.«
»Suchen Sie weiter«, befahl Dillon.
Sie fuhren in ein Gewirr aus engen, vollen Straßen und schmutzigen Hintergassen. Es war Dillon immer schon wie eine Ironie des Schicksals vorgekommen, dass die übelsten Bordelle Londons im Schatten der berühmtesten Kirche des Landes lagen. Sie durchquerten das Viertel, die schwarze Kutsche war nun dicht hinter ihnen; ab und zu blieben sie stehen, um zu lauschen, konnten den Hufschlag und das Räderrattern der anderen Droschke hören, sie aber nie entdecken. Sie kamen an den Rand der dicht bebauten Gegend; der Fahrer wurde langsamer.
Er beugte sich vor, um mit Dillon zu sprechen. »So werden wir ihn nie finden, aber wo er hineingefahren ist, muss er auch wieder herauskommen, und ich weiß, wo er das tun wird. Wollen Sie es so versuchen?«
Dillon zögerte, nickte dann aber. »Ja.«
In der Droschke sah er Russ an. »Besser, wir riskieren es, ein paar Minuten später zu kommen, als ihre Spur ganz zu verlieren.«
Mit grimmiger Miene nickte Russ.
Der Fahrer fuhr wieder zurück zu der ersten Straße, in die sie abgebogen waren. Er hatte seine Droschke gerade erst am Straßenrand angehalten, als er schon rief: »Da kommt er. He, Joe -halt an!« Um sicherzustellen, dass der andere das tat, stellte er sein Pferd quer.
Sein Kumpel blieb unter einem ganzen Reigen durchaus phantasievoller Flüche stehen. Dillon sprang auf die Straße, Russ tat auf der anderen Seite dasselbe.
»He!« Joe betrachtete ihn argwöhnisch. »Was ist los?« Verspätet tippte er sich an die Mütze. »Meine Herren?«
Dillon war nicht zu einem Lächeln in der Lage. »Sie haben gerade Fahrgäste in das Bordellviertel gefahren. Einen Mann und eine Dame - richtig?«
»Ja.« Joe blickte seinen Freund an.
»Antworte einfach. Sie haben es nicht auf dich abgesehen.«
»Hat sich die Dame gewehrt?«, wollte Russ wissen.
Joe blinzelte. »Nein ... nun, nicht so, dass es einem auffallen würde. Sie hatte dieses Ding über dem Kopf - sie hat sich nicht gegen den Herrn gewehrt, aber das konnte sie ja auch nicht, oder?«
»Wo haben Sie sie aussteigen lassen?«, stieß Dillon hervor, der sich der Minuten, die unterdessen verstrichen, nur zu bewusst war.
»Wo?« Joe starrte Dillon an, schaute dann fragend zu seinem Freund. »Äh ...«
Plötzlich tauchte ein Schatten neben Dillon auf. Dillon sah den Neuankömmling an, der lautlos wie eine Katze näher gekommen war. Dabei war der Mann einen Kopf größer als Dillon und auch doppelt so breit, jeder Zoll Muskeln. Seine Hände waren wie Schinken, seine Augen schmal; er beugte sich zu Joe vor und erklärte: »Mr Tranter sagt, du sollst dem Herrn alles sagen, was er wissen will.«
Mit Augen groß wie Untertassen schaute Joe ihn an, nickte.
Die Gestalt wartete, erkundigte sich dann in demselben unverfänglich milden Ton: »Was ist? Hat dir jemand die Zunge gestohlen?«
Joe verschluckte fast das fragliche Körperteil. Er hustete, schaute Dillon hilflos an. »Betsy Millers Haus. Da habe ich sie abgesetzt.«
Dillon schaute den Riesen fragend an. »Betsy Miller?«
»Das ist ein Bordell«, erläuterte der hilfsbereit. »Ein erstklassiges noch dazu. Hat sich auf Kunden Ihres Standes spezialisiert.« Er nickte in Dillons und Russ’ Richtung.
Über Joes Pferd hinweg starrten die beiden einander an.
Der Riese stieß Dillon an. »Ich denke, Sie wollen sicher losfahren. Mr Tranter, ich und die Jungs, wir sind direkt hinter Ihnen.«
Sekundenbruchteile später schloss Dillon die Droschkentür hinter sich.
23
Immer noch blind und so
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