Eine Schwester zum Glück
allein.
Aus dem ersten Impuls heraus rief ich Mackie an, doch sie hatte ein schreiendes Baby auf dem Arm und rief nur immer wieder Was? Was?, während ich zu reden versuchte.
»Wieso gehst du überhaupt ans Telefon, wenn das Baby derart schreit?«, fragte ich.
» Was? «, rief Mackie.
Als Nächstes versuchte ich, ins Internet zu gehen. Doch obwohl Howard bei allem, was ihm heilig war, geschworen hatte, dass es hier oben eine drahtlose Internetverbindung gebe, schaffte ich es kein einziges Mal, online zu gehen. So viel zum Thema Bloggen. Also machte ich ein paar Fotos von der Aussicht, dachte mir Geschichten über die Menschen aus, die ich unten sah, und band mir die Haare zu einem Pferdeschwanz. Ich zwang mich, am Geländer zu stehen und nach unten zu sehen. Und vor allem fragte ich mich, wie um alles in der Welt ich dazu kam, hier aufs Dach zu steigen.
Da ich mich irgendwie beschäftigen musste, schlug ich schließlich das Zelt auf. Eigentlich sollte man es an jeder Ecke festbinden, doch Howard hatte vorgeschlagen, ich sollte noch ein paar Extraknoten machen – für alle Fälle . Dann hängte ich ein Transparent mit der Aufschrift Wir lieben die Bibliothek der Liebe! am Geländer auf. Ich blies die Luftmatratze auf und packte meinen Rucksack aus: ein Notizheft, Stifte, Textmarker, Spielkarten, zwei Packungen Müsliriegel, drei Schachteln Kaugummi, Pfefferminzbonbons (für den großen Tag), ein paar Strickutensilien und das Buch Stricken für blutige Anfänger, saubere Kleidung, Zahnbürste und Zahnpasta, Wasserflaschen, meinen iPod, ein Foto meiner Mutter mit einem Stiefmütterchen hinter dem Ohr, ein Foto von Mackie und mir als Kinder beim Rodeo, Nagellack, sechs verschiedene Bücher über Architekturgeschichte, die Biografie eines Cowgirls, das Kunststücke mit dem Lasso aufführte, eine Sonnenbrille, Sonnencreme, eine Baseball kappe für die Zeit, wenn meine Haare zu ungewaschen wären, um sie der Öffentlichkeit zu präsentieren, und ein Zauberwürfel.
Als ich alles ausgepackt und aufgestellt hatte, war es Zeit zum Mittagessen.
Um Punkt zwölf Uhr klopfte Barbara an die Falltür. »Ich habe etwas zu essen!«, rief sie und stieß die Tür auf. »Wie geht es Ihnen?«
»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Prima. Sie sollten das hier für Events vermieten.«
Barbara durfte nicht bleiben. Wir wollten nicht davon ablenken, dass ich hier allein war – die verrückte Bibliotheksanhängerin auf dem Dach. Barbara sah auf die Uhr, bevor sie wieder ging. »Zwei Stunden haben Sie schon geschafft!« Sie zwinkerte mir aufmunternd zu.
»Dann bleiben ja nur noch siebenundneunzig«, ergänzte ich und fragte mich, was um Himmels willen ich die ganze Zeit über anfangen sollte.
Doch ich fand einen angenehmen Rhythmus. Zuerst las ich in meinen Architekturbüchern und machte mir Notizen. In das Notizbuch schrieb ich alles, was mir in den Sinn kam und irgendwie wichtig erschien. Barbara brachte mir Romane. Die Bibliothekarinnen hielten während des Tages die Stoppuhr für meine Klopausen an, und weil Howard ganz in der Nähe wohnte, übernahm er die Abende. In der ersten Nacht lag ich stundenlang wach, lauschte auf die Blätter an den Bäumen und den Verkehr, der unten vorüberfuhr, fragte mich, ob es sich bei dem Knoten hinten an meinem Hals um eine Art Halskrebs handelte, und wer auf meine Beerdigung käme. Selbst nachdem ich endlich eingeschlafen war, weckte mich jede Kleinigkeit – Autohupen, quietschende Reifen, das Flattern des Zeltes.
In der zweiten Nacht schlief ich schon besser. Es war doch ganz nett dort oben.
Doch nach einer Weile wurde ich ganz verrückt, weil ich kaum einen Quadratmeter zur Verfügung hatte und mich nicht frei bewegen konnte. Und ich fühlte mich furchtbar einsam. Ich fing an, Selbstgespräche zu führen: »Also dieser Vogel sieht dem Vogel ziemlich ähnlich, der gerade eben vorbeigeflogen ist. Ob es wohl Freunde sind? Hey, Vögelchen! War das dein Freund?« Ich sang mir auch etwas vor und begleitete mich, indem ich auf das Dach trommelte. Eine Auswahl an Songs von den Beatles, Joan Baez, Musical-Hits. »She’ll be Comin’ Round the Mountain« bekam etwas Düster-Allegorisches, wenn man es wie Bob Dylan sang, und es klang obszön, wenn man es wie Ethel Merman sang. Letzten Endes sang ich jedes Lied, das mir einfiel, und reihte sie zum längsten, eigenartigsten Medley auf, das es je gegeben hatte. Und natürlich sang ich unterschiedliche Versionen – mehr noch als bei allen anderen Liedern
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