Eine skandalöse Braut
wäre nie erfreut, dich bei einer Indiskretion wie an jenem Abend zu ertappen, aber es würde ihn rasend machen, wenn er wüsste, dass du ausgerechnet Lord Alexander geküsst hast. Dein Ruf würde leiden, wenn es zu einem Duell käme, und ehrlich gesagt, der Sohn des Dukes hat fünf lange Jahre unter Wellington gedient und an seiner Seite gekämpft. Ich glaube ihm, wenn er behauptet, er sei ein ausgezeichneter Schütze.«
Dass es zu einem Duell kommen könnte, war ihr bisher noch nicht in den Sinn gekommen. Vielleicht, weil sie sich nicht absichtlich mit ihm getroffen hatte. Beide Begegnungen waren rein zufälliger Natur gewesen. Für einen Augenblick saß Amelia schockiert da und schwieg. Die Rückkehr ihres Vaters, der eine feucht glänzende Flasche in der Hand hielt, ersparte es ihr, eine Antwort geben zu müssen.
Ihr Vater war Jahrzehnte älter als Alex St. James. Und er war ihr letzter Elternteil. Er war kein liebender und treu sorgender Vater, aber ebenso wenig war er grausam oder pflichtvergessen. Amelia hätte gerne die Möglichkeit wahrgenommen, ihn besser kennenzulernen. Aber sie bekam immer mehr den Eindruck, er hielt sie bewusst von sich fern. Zuerst hatte er sie während ihrer Kindheit auf dem Land allein gelassen und war selbst nach London gezogen. Und jetzt hielt er sie gefühlsmäßig auf Distanz, indem er die Verantwortung für ihre erste Saison so weit wie möglich in Tante Sophias Hände legte. Ihr Verstand sagte ihr, dass er dies nicht tat, weil er sie nicht mochte. Er kannte sie nicht gut genug, um sich ein Urteil zu erlauben. Vielleicht war er enttäuscht, weil sie kein Sohn war. Aber seit ihrer Ankunft in London war sie allmählich zu dem Schluss gelangt, dass er einfach nicht wollte, dass sie einen zu großen Platz in seinem Leben beanspruchte. Das wurmte sie gewaltig. Aber ebenso sehr verstörte sie die Vorstellung, sie könne der Grund sein, dass ihrem Vater etwas zustieß.
»Das ist ein vermaledeites Gedrängel da draußen«, verkündete er gereizt. Er schob den Vorhang beiseite und trat wieder in die Loge. »Anscheinend ist jede einzelne Person in London heute hier. Zum Glück bin ich Westhope über den Weg gelaufen. Gemeinsam haben wir uns einen Weg durch die Menge gebahnt und sogar etwas zu trinken ergattert. Natürlich habe ich ihn eingeladen, sich nach der Pause zu uns zu
setzen.«
Natürlich. Anderenfalls wäre ihr Vater ja auch gezwungen, mit Tante Sophia und ihr höfliche Konversation zu betreiben. Amelia warf dem Earl einen düsteren Blick zu. Er strahlte sie an und entschied sich für den Stuhl, der ihrem am nächsten stand. Sein Aufzug entsprach der allerneusten Mode, und seine hellen Haare waren perfekt frisiert. Als er ihr ein Glas Champagner reichte, machte er ihr für das elfenbeinfarbene Tüllkleid ein höfliches Kompliment. Er sah gut aus und war kultiviert. Wenn sie in seine blauen Augen blickte, fühlte sie wie immer nichts.
Unglücklicherweise bemerkte sie ausgerechnet in diesem Augenblick Alex.
Er hatte eine der vergoldeten Logen auf der anderen Seite des Saals betreten. Er trug Schwarz und Weiß. Offenbar hatte er für die Wirkung von Rüschen oder Spitzenbesatz am Kragen und an den Manschetten nichts übrig. Es gab keine glitzernde Anstecknadel, und auch mit seinen Haaren machte er nichts Besonderes, er trug sie sehr natürlich. Mit seiner Körpergröße hob er sich von den anderen ab, wie auch mit dem unmissverständlich strahlenden Lächeln, das sein Gesicht erhellte, als eine ältere Dame mit einem smaragdgrünen Abendkleid neben ihm etwas sagte, das ihn zu amüsieren schien. Sie bedeutete ihm, sich neben sie zu setzen.
Amelia erinnerte sich nur zu gut, wie sich das ebenholzschwarze Haar unter ihren Fingern anfühlte. Wie sein Mund sich zärtlich und zugleich besitzergreifend auf ihren legte …
Sie erinnerte sich auch noch an etwas anderes. Diese lange Härte, die sich gegen sie drückte und verblüffend männlich war. Es war schockierend gewesen, hatte aber ein Sehnen in ihr geweckt, das sie nur schamlos nennen konnte. Sie war kaum besser als Lady Fontaine. Sie hatte sich ohne Scham an ihn geschmiegt, während sie seinen Kuss erwidert hatte. Er war erregt gewesen. Er hatte sie gewollt, und das fand sie gleichermaßen beglückend und … faszinierend.
»… Vorstellung, nicht wahr?«
Sie zuckte zusammen und landete hart in der Realität. Lord Westhope blickte sie erwartungsvoll über den Rand seines Glases an. »Hm, ja«, murmelte sie, weil sie nicht
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