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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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kaum. Er hoffte inständig, daß der Alte sich nicht von Natur aus so unbekümmert gab, und war froh, es nicht auf die Probe stellen zu können. Statt dessen genoß er die Gastfreundschaft, saß über eine Stunde mit ihm zusammen und unterhielt sich mit ihm, bis der Arzt zurückkehrte. Im Grunde hatte er in dieser Zeit alles erfahren, was er wissen wollte. Phyllis Dexter war eine ausgesprochen hübsche Frau mit honigbraunem Haar und goldbraunen Augen, einer liebenswürdigen Art und wachem Verstand gewesen. Über der Frage nach ihrer Schuld oder Unschuld hatten sich die Geister erbittert geschieden. Die Polizei hielt sie für schuldig, ebenso der Bürgermeister wie auch ein Großteil des Landadels. Arzt und Pfarrer indes standen auf ihrer Seite. Dasselbe galt für den Besitzer des Wirtshauses, der zur Genüge in den Genuß von Adam Dexters Wutausbrüchen und mürrischer Meckerei gekommen war. Wraggs hob besonders hervor, mit welcher Verbissenheit Monk seinen Ermittlungen nachgegangen war. Tag und Nacht hätte er die Zeugen schikaniert, ihnen ins Gewissen geredet und sie angefleht, bis in die frühen Morgenstunden hinein über Aussagen und Beweismitteln gebrütet, bis er vor Erschöpfung fast umgefallen war.
    »Sie verdankt Ihnen das Leben, Mr. Monk, das steht mal fest«, sagte Wraggs mit großen Augen. »Mein Gott, was haben Sie gekämpft! Für keine Frau – und für keinen Mann – hat sich schon mal jemand sosehr eingesetzt wie Sie, das schwör ich bei meiner Bibel, jawoll.«
    »Wo ging sie hin, Mr. Wraggs, als sie von hier verschwand?«
    »Tja, das hatse niemand verraten, die arme Seele!« Wraggs schüttelte betrübt den Kopf. »Kann man ihr auch nich verdenken, so wie manche Leute sich’s Maul über sie zerrissen haben.«
    Monks Mut sank. Nach der ganzen Hoffnung, Wraggs’ herzlichem Empfang und dem unvermuteten Auftauchen eines besseren Teils seines Ichs, schien plötzlich wieder alles verloren.
    »Sie haben keine Ahnung?« Entsetzt registrierte er das Stocken in seiner Stimme.
    »Nein, Sir, nich die Spur.« Wraggs schaute ihn traurig und bekümmert aus seinen alten Augen an. »Hat sich unter Tränen bei Ihnen bedankt, nich wahr, und dann hatse ihre Sachen gepackt und is verschwunden. Komisch, ich hab eigentlich gedacht, Sie wüßten, wo sie hin is. Irgendwie hatte ich so ’n Gefühl, als ob Sie ihr geholfen hätten. Aber da war ich wohl auf ’m Holzweg.«
    »Frankreich – der Wachtmeister im Polizeirevier glaubt, sie wäre in Frankreich.«
    »Tja, wundern würd’s mich nich.« Wraggs nickte verständnisvoll. »Hatte bestimmt keine große Lust mehr, in England zu bleiben, was, nach dem ganzen Gerede hier!«
    »Sie hätte nur in den Süden zu gehen brauchen. Wer hätte sie da schon erkannt?« gab Monk realistisch zurück. »Sie hätte einen anderen Namen annehmen können und wäre in der Menge verschwunden.«
    »O nein, Sir, das glaub ich nich. Nich mit den ganzen Bildern von ihr in allen Zeitungen drin! Und so wie die aussah, hätten die Leute sie sofort wiedererkannt. War schon besser, dasse ins Ausland gegangen is. Und ich für mein Teil kann ihr bloß wünschen, dasse ’n schönes Plätzchen für sich gefunden hat.«
    »Bilder?«
    »Ja, Sir – die Zeitungen waren doch voll davon. Kommen Se, wissen Se das etwa nich mehr? Ich holse schnell. Wir haben alles aufgehoben.« Ohne Monks Antwort abzuwarten, rappelte er sich hoch und humpelte zu dem Schreibtisch in der Ecke hinüber. Er rumorte einige Zeit darin herum und kehrte dann voll Stolz mit einem Stück Papier zurück, das er vor Monk auf den Tisch legte.
    Es handelte sich um das gestochen scharfe Bild einer auffallend hübschen Frau von vielleicht fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahren; sie hatte große Augen und ein zartes, längliches Gesicht. Ihr Anblick rief sofort alte Gefühle in ihm wach: Mitleid und einige Bewunderung; Wut wegen des Elends, das sie hatte aushalten müssen, und wegen der Ignoranz der Leute, die sich weigerten, ihre Notlage zu verstehen; wilde Entschlossenheit, einen Freispruch für sie zu erringen; Erleichterung, als es ihm glückte, und stille Zufriedenheit. Aber nicht mehr; keine Liebe, keine Verzweiflung – keine nagende, bohrende Erinnerung.

8
    Man schrieb den fünfzehnten Juni. Bis zum Prozeß war es noch knapp eine Woche, die Zeitungen hatten das Thema Carlyon wieder aufgenommen. Es wurde heftigst über mögliche Enthüllungen spekuliert, über eventuelle Überraschungszeugen von Anklage oder Verteidigung, über

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