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Eine Spur von Verrat

Eine Spur von Verrat

Titel: Eine Spur von Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Großmama.« Er machte einen großen Bogen um den Stuhl seines Großvaters, umrundete dann Peverell, ohne ihn anzusehen, und ließ sich schließlich auf dem leeren Stuhl neben Damaris nieder.
    Hester aß weiter, beobachtete aber unauffällig, wie er mit gesenktem Blick lustlos in seiner Hauptspeise stocherte. Da er die Suppe nun einmal verpaßt hatte, wurde ihm auch nicht die Gnade gewährt, sie nachzuholen. Er war ein hübsches Kind mit honigblondem Haar und heller Haut, die lediglich durch ein paar vereinzelte Sommersprossen etwas Farbe bekam. Seine Stirn war breit, die Nase kurz und zeigte bereits die ersten Anzeichen einer leichten Krümmung. Der breite, volle Mund war noch kindlich weich, hatte aber etwas leicht Schmollendes und Geheimnistuerisches an sich. Selbst als er mit Edith sprach, um ein wenig Wasser oder den Gewürzständer bat, machte er auf Hester einen extrem verschlossenen Eindruck. Er wirkte viel vorsichtiger, als sie es von einem Kind erwartet hätte.
    Dann dachte sie an die entsetzlichen Ereignisse des vergangenen Monats, die ein furchtbarer Schlag für ihn gewesen sein mußten. An einem einzigen Abend hatte er den Vater verloren und die Mutter in ihren eigenen Kummer, ihr Grauen und ihre Furcht verstrickt vorgefunden, bis man auch sie zwei Wochen später gewaltsam von ihm fortgeholt und eingesperrt hatte. Wußte er, warum überhaupt? Hatte ihm jemand das volle Ausmaß der Tragödie erklärt? Oder glaubte er, daß es ein Unfall gewesen war und seine Mutter zurückkommen würde?
    Sein vorsichtiges, mißtrauisches Gesicht ließ zwar kaum Rückschlüsse zu, doch verängstigt wirkte er eigentlich nicht.
    Seltsamerweise blickte er auch niemanden hilfesuchend an, obwohl er sich im Kreis der Familie befand und sie vermutlich alle recht gut kannte.
    Hatte ihn schon jemand in den Arm genommen, damit er sich einmal so richtig ausweinen konnte? Hatte ihm jemand klargemacht, was vor sich ging? Oder ließ man ihn mit seiner Verwirrung, seinen Phantasien und Ängsten allein? Erwartete man, daß er seinen Kummer mit der stoischen Miene eines Erwachsenen trug, sein völlig verändertes Leben weiterführte, als bedürfe es keinerlei Antworten oder Trost? War die Tatsache, daß er so erwachsen wirkte, nur ein Versuch, das zu sein, was man von ihm erwartete?
    Oder hatten sie sich darüber noch gar keine Gedanken gemacht? Gingen sie davon aus, daß Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf alles war, was ein Junge seines Alters brauchte?
    Die Unterhaltung plätscherte seicht vor sich hin, und Hester erfuhr nichts Neues. Man tauschte Banalitäten aus, unterhielt sich über Bekannte, deren Namen ihr nichts sagten, über die feine Gesellschaft im allgemeinen, die Regierung, die aktuellen Geschehnisse und die öffentliche Meinung zu den Skandalen und Katastrophen der Stunde.
    Der letzte Gang war abgeräumt, und Felicia nahm soeben ein Mintbonbon vom Silbertablett, als Damaris wieder auf das ursprüngliche Thema zu sprechen kam.
    »Ich bin heute morgen einem Zeitungsjungen begegnet, der sich brüllend über Alex ausgelassen hat«, sagte sie bedrückt.
    »Es waren ganz fürchterliche Dinge dabei. Wie können manche Leute nur so so boshaft sein? Sie wissen ja noch gar nicht, ob sie es war oder nicht!«
    »Hättest nicht hinhören sollen«, murmelte Randolf finster.
    »Das hat dir deine Mutter vorhin schon gesagt.«
    »Ich hatte keine Ahnung, daß du ausgehen wolltest.« Felicia blickte sie verärgert über den Tisch hinweg an. »Wo bist du gewesen?«
    »Beim Damenschneider«, gab Damaris hitzig zurück. »Ich brauche noch ein schwarzes Kleid. Du möchtest bestimmt nicht, daß ich in Purpur trauere.«
    »Purpur ist Halbtrauer.« Felicias große, tiefliegende Augen ruhten mißbilligend auf ihrer Tochter. »Dein Bruder ist gerade erst unter die Erde gekommen. Du wirst so lange Schwarz tragen, wie es die Etikette verlangt. Ich weiß, die Beerdigung ist vorbei, aber falls du vor dem Michaelisfest in Purpur oder Lavendel aus dem Haus gehen solltest, würde ich in der Tat sehr ärgerlich werden.«
    Bei der Aussicht, den ganzen Sommer Schwarz tragen zu müssen, verfinsterte sich Damaris’ Gesicht merklich. Sie sagte allerdings nichts.
    »Außerdem war es überflüssig, das Haus zu verlassen«, fuhr Felicia fort. »Du hättest den Schneider herbestellen können.« Damaris’ Miene spiegelte eine Unmenge Gedanken wider, insbesondere den, wie gern sie dem Haus und dessen Umgebung für eine Weile entfliehen würde.
    »Was stand

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