Eine Spur von Verrat
Haus. Sie hatte Edith über sämtliche neuen Erkenntnisse informiert und verabschiedete sich mit dem Versprechen, auch weiterhin alles zu tun, was im Rahmen ihrer sehr begrenzten Möglichkeiten stand. Dabei versuchte sie wider besseres Wissen, Edith ein wenig Hoffnung zu machen.
Den Blick starr in Richtung Fenster gerichtet, wartete Major Tiplady bereits ungeduldig auf ihr Kommen. Kaum hatte sie das Zimmer betreten, fragte er sie ungeduldig aus.
»Ich glaube nicht, daß viel Brauchbares dabei herausgekommen ist«, antwortete Hester, während sie Haube und Mantel ablegte und auf einem Stuhl deponierte, damit Molly die Sachen aufhängen konnte. »Aber ich habe einiges über den General erfahren. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn gemocht hätte, aber jetzt kann ich seinen Tod wenigstens ein bißchen bedauern.«
»Das klingt nicht gerade produktiv«, bemerkte Tiplady kritisch. Kerzengerade aufgerichtet, betrachtete er sie aufmerksam. »Könnte dieses Louisaweib ihn getötet haben?«
Hester durchquerte den Raum, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn.
»Ich glaube kaum«, nahm sie ihm seine Illusion. »Er war zu Freundschaften offenbar wesentlich eher in der Lage als zu Liebesbeziehungen; und Louisa hatte allem Anschein nach zuviel zu verlieren, sowohl in finanzieller wie auch in gesellschaftlicher Hinsicht, als daß sie mehr als nur einen Flirt riskiert hätte.« Sie war mit einem Mal furchtbar deprimiert. »Es sieht ganz so aus, als ob wirklich nur Alexandra in Frage kommt – oder die arme Sabella, falls sie tatsächlich geistesgestört ist.«
»Guter Gott!« Auch Tiplady war am Boden zerstört. »Was machen wir denn jetzt?«
»Vielleicht war es ja einer der Dienstboten«, sagte Hester mit neuerwachender Zuversicht.
»Einer der Dienstboten?« wiederholte er ungläubig. »Aus welchem Grund?«
»Keine Ahnung. Wegen irgendeiner alten Armeegeschichte zum Beispiel?«
Er machte ein skeptisches Gesicht.
»Ich werde dem jedenfalls nachgehen!« erklärte sie resolut.
»Und? Haben Sie schon Tee getrunken? Wie steht’s mit Abendessen? Worauf hätten Sie Appetit?«
Zwei Tage später nahm sie sich den Nachmittag frei – Major Tiplady hatte darauf bestanden – und besuchte Lady Callandra Daviot, um etwas mehr über General Carlyons Militärlaufbahn zu erfahren. Callandra hatte ihr mit Rat und Tat und unerschütterlicher Freundschaft zur Seite gestanden, als sie von der Krim zurückgekehrt war, und ihr mittels ihrer Beziehungen die Stellung im Krankenhaus verschafft. Es war ausgesprochen großherzig von ihr gewesen, daß sie Hester nicht mit erheblich herberen Kommentaren bedacht hatte, als diese wegen Überschreitung ihrer Befugnisse wieder entlassen worden war.
Callandras verstorbener Gatte, Colonel Daviot, hatte es als Militärchirurg zu einigem Ruhm gebracht, ansonsten war er ein aufbrausender, charmanter, halsstarriger, geistreicher und ein wenig despotischer Mann gewesen. Er hatte sich eines großen Bekanntenkreises erfreut und konnte durchaus etwas über General Carlyon gewußt haben. Callandra, die immer noch in Kontakt mit dem Sanitätskorps stand, erinnerte sich vielleicht, von ihm gehört zu haben. Falls nicht, konnte sie eine diskrete Anfrage stellen, um etwas über seinen beruflichen Werdegang und, was weitaus wichtiger war, seinen Ruf als Privatmann in Erfahrung zu bringen. Vielleicht erhielt sie auf diesem Weg Informationen über inoffizielle Ereignisse, die ihnen die Tür zu einem möglichen Mordmotiv öffneten. Jemand, der sich für eine Ungerechtigkeit rächen wollte zum Beispiel, für einen Verrat auf dem Schlachtfeld, für eine unrechtmäßige, erschlichene Beförderung oder sogar einen an die Öffentlichkeit gezerrten Skandal. Der Möglichkeiten gab es viele.
Sie saßen in Callandras Zimmer, das man kaum als Salon bezeichnen konnte, da sie offizielle Gäste hier niemals empfangen hätte. Es war sonnendurchflutet, unglaublich unmodern möbliert und mit Büchern und Zeitungen übersät. Überall sah man Kissen, die der Steigerung der Bequemlichkeit dienen sollten, auf dem Sofa lagen zwei abgelegte Umhängetücher sowie ein im Grunde weißer, schlafender Kater, der jedoch über und über mit Ruß bedeckt war.
Auch Callandra selbst, eine Frau in fortgeschrittenen Jahren, bot einen höchst interessanten Anblick. Ihr graues Haar stand zu allen Seiten ab, als wäre sie einem mittelschweren Sturm ausgesetzt, das wache, intelligente und humorvolle Gesicht mit der langen Nase wirkte mindestens
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