Eine Spur von Verrat
angenehmes, konventionelles Arbeitszimmer, wo Hargrave ihn bereits erwartete. Der Mann war ungewöhnlich groß, schlank und gut gebaut, machte jedoch trotz der breiten Schultern keinen besonders muskulösen Eindruck. Er hatte aschblondes Haar, leicht zusammengekniffene, grünblaue Augen und eine lange, spitze Nase, die nicht ganz gerade war, als wäre sie irgendwann einmal gebrochen gewesen und nicht richtig zusammengewachsen. Der Mund war klein, bei jedem Lächeln traten zwei gleichmäßige Zahnreihen hervor. Hargrave hatte ein sehr eigenwilliges Gesicht und schien sich in seiner Haut ausgesprochen wohl zu fühlen.
»Guten Abend, Mr. Monk. Ich bezweifle zwar, Ihnen helfen zu können, aber ich will es selbstverständlich gern versuchen – auch wenn ich der Polizei bereits alles gesagt habe.«
»Vielen Dank, Sir«, erwiderte Monk erfreut. »Das ist sehr entgegenkommend von Ihnen.«
»Nicht der Rede wert. Eine verteufelte Geschichte.« Er deutete auf einen der beiden großen Ledersessel neben dem Kamin, wartete, bis Monk sich gesetzt hatte, und nahm dann in dem anderen Platz. »Was möchten Sie wissen? Über den Verlauf des Abends sind Sie vermutlich schon informiert?«
»Ich habe mehrere Darstellungen gehört, die nur unerheblich voneinander abweichen«, gab Monk zurück. »Trotzdem sind noch einige Fragen offen. Haben Sie zum Beispiel eine Vorstellung, warum Mrs. Erskine so beunruhigt gewesen ist?«
Hargrave lächelte unverhofft. Es war eine charmante, offenherzige Gebärde. »Nein, nicht im geringsten. Krach mit Louisa, nehme ich an, aber ich habe keinen Schimmer weshalb. Jedenfalls war sie zu Maxim ausgesprochen garstig, was eigentlich nicht ihre Art ist. Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht mehr sagen kann. Und ehe Sie fragen, warum Thaddeus und Alexandra sich gestritten haben auch das weiß ich leider nicht.«
»Könnte es dabei ebenfalls um Mrs. Furnival gegangen sein?«
Hargrave sann eine Weile nach. Er legte die Fingerspitzen aneinander, so daß das Ergebnis einem Spitzturm ähnelte, und blickte Monk darüber hinweg nachdenklich an.
»Anfangs hielt ich das für ziemlich abwegig, aber je länger mir der Gedanke durch den Kopf geht, desto wahrscheinlicher kommt er mir vor. Konkurrenz ist etwas sehr Merkwürdiges. Die Menschen kämpfen manchmal nicht um Dinge, weil sie sie um ihrer selbst willen haben möchten, sondern weil sie den Kampf gewinnen und dabei gesehen werden wollen; jedenfalls haben sie nicht die geringste Lust, als Verlierer dazustehen.« Mit ernster Miene forschte er in Monks Zügen. »Ich will damit sagen, daß Alexandras Stolz ihr vielleicht über alles ging. Obwohl sie den General gar nicht so sehr liebte, konnte sie es vielleicht nicht ertragen, daß er jemand anderem im Beisein ihrer Familie und ihrer Freunde zuviel Aufmerksamkeit schenkte.« Er glaubte Skepsis in Monks Gesicht zu erkennen.
»Mir ist natürlich klar, daß Mord eine sehr extreme Reaktion darauf ist.« Er runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippe.
»Und eine Lösung ist es auch nicht, aber das gilt für alle anderen Probleme genauso. Andererseits besteht kein Zweifel daran, daß der General tatsächlich ermordet wurde.«
»Wurde er das?« Monk fragte weniger aus Skepsis, als um die Dinge klarzustellen. »Sie haben die Leiche untersucht; für Sie stand nicht auf Anhieb fest, daß es Mord war, oder?«
Hargrave lächelte trocken. »Nein. Aber ich hätte an jenem Abend sowieso nichts gesagt, egal, was ich dachte. Ich war zugegebenermaßen ziemlich erschüttert, als Maxim zurückkam und sagte, Thaddeus hätte einen Unfall gehabt. Und als ich ihn dann sah, wußte ich natürlich sofort, daß er tot war. Die Wunde machte einen üblen Eindruck. Nachdem für mich feststand, daß ich nichts mehr für ihn tun konnte, habe ich mir in erster Linie den Kopf darüber zerbrochen, wie ich es seiner Familie am schonendsten beibringen könnte; sie war fast vollständig vertreten, inklusive seiner Frau. Damals hatte ich selbstverständlich noch keine Ahnung, daß sie als einzige bereits völlig im Bilde war.«
»Was ist, aus Ihrer Sicht als Mediziner betrachtet, geschehen, Dr. Hargrave?«
Hargrave spitzte die Lippen.
»Detailgetreu«, fügte Monk hinzu.
»Vielleicht sollte ich zunächst den Tatort beschreiben.« Hargrave schlug die Beine übereinander und starrte in die züngelnden Flammen, welche die Abendkühle vertreiben sollten. »Der General lag ausgestreckt auf dem Boden, direkt unter der Biegung des Treppengeländers«,
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