Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
wie hieß er vor der Heirat?"
Jetzt wurde ihr Blick misstrauisch, sie sah mich mit fest zusammengepressten Lippen an. Mir dämmerte eine Erkenntnis: "Hieß er vorher Brückner?", fragte ich.
"Na, Sie sind ja gut informiert", kam es statt einer Antwort zurück. Waren die Leute in diesem Ort eigentlich generell so unfreundlich oder hatten sie gemeinsam ein dunkles Geheimnis zu hüten? Mir war es in diesem Moment egal, ich hatte jedenfalls gerade ein weiteres Rätsel lösen und dem Puzzle ein Teil hinzufügen können. Melissas Vater war ein geborener Brückner und demnach mit meiner Patientin verwandt. Den Grad der Verwandtschaft musste ich noch herausfinden, die Verwalterin des Heimatstübchens würde ihn mir definitiv nicht verraten. Ich ging zu den Bildern zurück, um sie noch einmal in Ruhe zu betrachten. Im Nebenraum wurde leise eine Tür zugezogen. Ein Blick durch den Durchgang verriet mir, dass der Schreibtisch jetzt verwaist war. Hinter einer mit Privat beschrifteten Tür war leises Gemurmel zu vernehmen. Offenbar telefonierte die Dame. Ich kehrte zu den Bildern zurück und ließ mich davor auf einem der alten Stühle nieder. Der ganze Raum war als Stube aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet, mit einem urigen Kachelofen und einem Spinnrad davor. Adrian Morgenroths Bilder passten nicht in dieses Ambiente, dafür wirkten sie viel zu frisch und modern. Die Ähnlichkeit mit den Arbeiten von Melissa war wirklich verblüffend. Spielten da Erinnerungen eine Rolle oder konnte sich so ein Stil etwa tatsächlich vererben?
Eine empörte Stimme riss mich aus meinen Gedanken: "Hier dürfen Sie nicht sitzen!" Weder gab es einen entsprechenden Hinweis, noch bestand die Gefahr, dass der derbe Holzstuhl unter mir zusammenbrechen könnte. Dennoch erhob ich mich sofort mit einer Entschuldigung. "Ich wollte ohnehin gerade gehen", sagte ich, "vielen Dank. Auf Wiedersehen." Auf letzteres schien sie keinen Wert zu legen, die reservierte Dame verabschiedete mich mit einem knappen Kopfnicken.
Ich stand wieder draußen im hellen Sonnenlicht und atmete erst einmal tief durch. Wie sollte es jetzt weitergehen? Die unfreundliche Behandlung durch die Leiterin des Heimatstübchens hatte mich entmutigt. Wie würde da erst Frau Brückner reagieren? Offiziell kannte ich ja nicht einmal ihren Namen. Trotzdem trugen mich meine Füße ganz automatisch zu der Straße, in der sich die Firma befand. Dann wurde mir die Entscheidung abgenommen. Denn vor dem Tor stand sie in blauer Hose und geblümter Bluse und sah mir entgegen, als würde sie mich schon erwarten. Ein Ausweichen war nun unmöglich. Entschlossen ging ich auf sie zu und versuchte es erst einmal mit einem einfachen, neutralen Gruß, den sie nicht erwiderte. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand sie vor mir und starrte mich feindselig an. "Weshalb spionieren Sie mir nach?", brach es dann aus ihr heraus. Auf diesen Vorwurf war ich vorbereitet. "Das tue ich ganz gewiss nicht", erwiderte ich, "ich bin nicht Ihretwegen hier."
"Und weshalb sind Sie dann hier?", setzte sie ihr Verhör fort.
"Das darf ich Ihnen nicht sagen. Weil ich die Identität einer anderen Person schützen muss, so wie ich auch Ihre immer geschützt habe."
Sie ging nicht darauf ein, sondern fragte stattdessen weiter: "Kennen Sie einen Herrn Wenger?"
Diese Frage berührte einen neuralgischen Punkt, doch ich ließ es jetzt einfach darauf ankommen. "Er war bei mir", sagte ich. "Er wollte sich nach Ihnen erkundigen. Ich habe ihm selbstverständlich jede Auskunft verweigert und ihn rausgeworfen." Damit hatte ich offenbar den richtigen Ton getroffen, denn ihre Züge entspannten sich und sie nahm die Arme herunter. Einen Augenblick lang schien sie noch mit sich zu ringen, doch dann sagte sie: "Es ist gut, dass Sie da sind, sonst hätte ich Sie aufgesucht. Kommen Sie mit rein, ich erzähle Ihnen, was Sie wissen wollen."
Wir gingen durch das Tor auf einen Hof, auf dem mehrere LKW mit dem Firmenlogo standen. Dann wandten wir uns hinter dem Firmengebäude nach rechts. Plötzlich ergab sich ein neuer Ausblick. Ich hatte Mühe, meine Überraschung zu verbergen! Denn direkt vor mir befand sich der Turm, eben jener Turm, den Melissa auf der Zeichnug als den "richtigen" ausgemacht hatte. Im Grunde genommen handelte es sich eher um ein Türmchen, denn er war klein und unscheinbar. Von der Straße her hatte ich ihn überhaupt nicht sehen können. Offenbar war er Teil einer alten Stadtmauer, von der ebenfalls noch verwitterte Reste
Weitere Kostenlose Bücher