Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
eine dritte Tochter", sagte sie dann, "aber die ist zunächst bei meiner Schwester aufgewachsen. Ich war erst 16, als sie geboren wurde. Erst nach dem Tod meiner Schwester kam sie in unsere Familie, da war sie 10 Jahre alt. Sie hat sich nie richtig eingefügt, hing immer nur im Forsthaus bei Onkel und Tante rum. Die haben ihr dann auch noch jede Menge Flöhe ins Ohr gesetzt, haben ihr Klavier- und Zeichenunterricht gegeben und behauptet, sie sei begabt. Zu Hause bei uns wollte sie immer nur malen und sich an keiner Arbeit beteiligen. So etwas konnten wir wirklich nicht gebrauchen. Es gab öfter mal Streit deswegen. Nach den Unglücksfällen in der Familie ist sie regelrecht durchgedreht. Im Nachthemd ist sie durch den Ort gelaufen und hat behauptet, man wolle sie umbringen. Uns blieb schließlich nichts anderes übrig, als sie in eine Nervenklinik einweisen zu lassen. Ich rede nicht gern darüber, deshalb habe ich sie in unserem ersten Gespräch wohl nicht erwähnt."
Keinesfalls würde ich sie daran erinnern, dass sie im ersten Gespräch behauptet hatte, dieses Kind abgetrieben zu haben. Aufschlussreich fand ich es aber schon. Empfand sie die Vernachlässigung dieser Tochter fast wie eine Abtreibung? Das würde für erhebliche Schuldgefühle sprechen. "Was ist aus ihr geworden?", hakte ich nach. Ein resigniertes Schulterzucken war die Antwort. "Sie war 6 Jahre in der Klinik, danach noch 4 Jahre in einer betreuten Wohngruppe. Die ganze Zeit über war sie sehr verwirrt und hat den Kontakt zu mir abgelehnt. Vor 3 Jahren ist sie dann plötzlich in eine eigene Wohnung gezogen. Angeblich war sie geheilt, doch ich frage mich ernsthaft, ob das wirklich zutraf. Sie führt seitdem ein unstetes Leben und wechselt ständig den Wohnsitz. Ich befürchte, dass es ihr wieder schlechter geht. Kontakt lehnt sie nach wie vor ab, ich mache mir große Sorgen um sie."
Ich sagte Frau Brückner, dass ich das gut verstehen könnte. "Und machen Sie sich um Melissa auch Sorgen?", fragte ich . "In gewisser Weise schon. Aber aus allem, was da jetzt passiert, möchte ich meine Familie unbedingt heraus halten. Melissa darf nichts von diesem Gespräch erfahren. Sie werden Ihr doch nichts sagen?"
"Selbstverständlich nicht. Sie können sich auf mich verlassen"
"Ich weiß", sagte sie. "Sonst hätte ich nicht mit Ihnen geredet." Zum ersten Mal bemerkte ich bei ihr die leise Andeutung eines Lächelns.
49.
Gut drei Stunden später saß ich im Zug nach Wernigerode. Das Gespräch mit Frau Brückner hatte sich noch eine ganze Weile hingezogen. Sie hatte mir unter anderem mitgeteilt, dass ihr Mann nun doch bei ihr geblieben sei und man sich wieder zusammengerauft habe. Doch ihre Blicke und Gesten hatten eine andere Sprache gesprochen, offenbar waren die Probleme zwischen ihnen noch längst nicht bewältigt. Überhaupt hinterließ das gesamte Gespräch sehr zwiespältige Gefühle bei mir. Einerseits konnte ich recht zufrieden sein. Frau Brückner hatte lange und bereitwillig mit mir geredet und sie hegte kein Misstrauen gegen mich, was die Einhaltung meiner Schweigepflicht betraf. Das war mir natürlich sehr wichtig. Andererseits war mir klar geworden, dass sie mir durchaus nicht alles erzählt hatte. Hinter ihren wortreichen Schilderungen verbarg sich eine tiefere Wahrheit, die sie unbedingt geheim halten wollte. Immer wieder hatten mir ihre abschweifenden Blicke und verkrampften Gesten genau das verraten. Doch um welche Wahrheit mochte es sich handeln und welche Punkte ihrer Ausführungen betraf sie?
Mir war es gelungen, die Rede noch einmal auf den Tag der offenen Tür in Dahrenried zu bringen und sie zu fragen, ob sie irgendwelche Beobachtungen gemacht hatte. Sie hatte das hastig abgewehrt, allzu hastig. Angeblich war sie nur auf der Eröffnung der Ausstellung gewesen und dann sofort wieder gegangen. Als das Sportfest begann, sei sie längst nicht mehr dort gewesen und von dem Mord habe sie erst später aus der Zeitung erfahren.
Mir war sofort klar, dass sie log. Aber weshalb? Hatte sie wirklich etwas zu verbergen, oder wollte sie nur verhindern, in diese Vorgänge hinein gezogen zu werden, sei es auch nur als Zeugin? Sie hatte mir erklärt, dass es vor 13 Jahren viel Gerede im Ort gegeben hätte. Es sei einfach zu viel passiert, erst die tragischen Todesfälle, dann die Einweisung ihrer ältesten Tochter in die Psychiatrie. Ihre Familie habe sehr darunter zu leiden gehabt, auch die Kinder. Sie sei froh, dass inzwischen Ruhe eingekehrt sei und
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