Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
sie bereue bereits, nach Melissa gesucht zu haben. Auf keinen Fall sollten dadurch die alten Geschichten wieder aufgerührt werden.
Die Grübelei brachte mich nicht weiter. Durch das Zugfenster schien warm die Nachmittagssonne und draußen zog die schöne Landschaft des Harzes an mir vorbei. Ich schloss die Augen, doch sofort waren die Bilder des Tages wieder da und wollten mir keine Ruhe lassen. Nur ganz allmählich begannen sie zu verschwimmen und sich zu Träumen zu verdichten. Ich stand im Heimatstübchen vor den Bildern von Adrian Morgenroth und bemerkte plötzlich, dass im Nebenraum Frau Brückner und die aufsichtführende Dame aufgeregt miteinander tuschelten. Gleich darauf saß ich mit Frau Brückner in der ungemütlichen Diele und bemerkte, wie eine schattenhafte Gestalt durch das Fenster spähte. "Da ist Niemand", sagte Frau Brückner, "man soll die Vergangenheit besser ruhen lassen." Dann wechselte die Szenerie erneut, ich ging mit Brutus spazieren und er bellte aufgeregt den Briefkasten an. Ich zögerte hineinzusehen, fürchtete einen unangenehmen Fund zu machen. Als ich es doch tat, lag darin nur ein weißes Blatt, das in meiner Hand zu einem Gemälde wurde. Während ich es noch betrachtete, huschte eine bunt gekleidete Gestalt eilig an mir vorbei.
In dem Moment erwachte ich mit dem bestimmten Gefühl, gerade auf etwas Wichtiges gestoßen zu sein, das ich unbedingt festhalten musste. Was wollte die bunte Gestalt mir sagen? Sie erinnerte mich an die seltsame junge Frau, die Melissa und mich eine Zeit lang verfolgt hatte. Diese war mir auf eine eigenartige Weise bekannt vorgekommen und plötzlich wusste ich auch weshalb: Die Ähnlichkeit zwischen ihr und Frau Brückner war unverkennbar. Langsam setzten sich die Puzzleteile in meinem Kopf zusammen. Tobias hatte über Anne Niemann berichtet, dass sie wegen ihrer merkwürdigen Art, sich zu kleiden, aufgefallen sei. Frau Brückner hatte Annes Zeichenunterricht bei Adrian Morgenroth erwähnt. Unsere zeitweilige Stalkerin war Anne Niemann gewesen, die verleugnete älteste Tochter von Frau Brückner! Vermutlich hatte sie Melissa die Zeichnung des Turmes und die Aufforderung, sich zu erinnern, zukommen lassen. Auf jeden Fall kannte sie den Turm und die dramatischen Ereignisse, die sich damals abgespielt hatten. Zu dem Zeitpunkt muss sie etwa 16 Jahre alt gewesen sein.
Aber warum verfolgte sie Melissa und drohte ihr sogar? Falls Frau Brückners Annahme stimmte und sie wieder krank war, bedurfte es dafür keiner rationalen Gründe. Sie hatte sich zu der Familie Morgenroth hingezogen gefühlt, sich als Teil von ihr erlebt. Vielleicht gab sie ja Melissa die Schuld an deren Zerstörung und wollte sich dafür rächen. Wenn Anna Niemann hinter den rätselhaften Morden steckte und ihre Mutter das ahnte oder sogar wusste, dann war das die Wahrheit, die sie unbedingt verbergen musste. Der mühsam wieder aufgebaute Ruf ihrer Familie stand auf dem Spiel. Wenn niemand sie stoppte, würde Anne weitermachen. Schließlich war sie intelligent und verstand es, sich anzupassen, das wurde durch das Urteil ihrer ehemaligen Kollegen belegt.
Von diesem Moment an hatte ich keine Ruhe mehr. Kaum zu Hause angekommen, zog ich mich in mein Zimmer zurück, um ungestört zu telefonieren. Meine Mutter schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. "Du bist ja noch gar nicht richtig da", schimpfte sie. "Lass dich doch nicht so von deiner Arbeit auffressen, das predigst du anderen schließlich auch immer. Aber selbst machst du den gleichen Fehler." Anton, dem die Begrüßung durch mich ebenfalls zu knapp gewesen war, quetschte sich mit durch die Tür und legte sich auf meine Füße. Zum Glück erreichte ich Ruth sofort. Ich teilte ihr mit, wo ich gewesen war und machte mich auf eine Strafpredigt gefasst. Sie fiel verhältnismäßig knapp aus. Was ich dann zu berichten hatte, interessierte sie umso mehr. Ruth stellte mir eine Menge Fragen dazu. Das hatte zur Folge, dass ich mir der Richtigkeit meiner Schlussfolgerungen noch sicherer wurde. Nun ergab sich allerdings das Problem, in welcher Form und an wen ich sie weitergeben konnte und durfte. Bei diesen Überlegungen war mir Ruth wie immer eine große Hilfe, sie ging die Sache ganz systematisch an.
"Anne Niemann war nicht deine Patientin", sagte sie. "Dadurch, dass sie dich verfolgt hat, bist du selbst auf sie aufmerksam geworden. Woher die zusätzlichen Informationen über sie stammen, darfst du natürlich nicht sagen, Frau Brückner muss außen vor
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