Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
einer ganzen Weile fragte sie, ob ich noch dran wäre. Kaum hatte ich 'ja' gesagt, wurde das Gespräch unterbrochen. Ich dachte, sie ruft gleich wieder an und habe neben dem Apparat gewartet, aber es kam erst mal kein Anruf."
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Johannes, der sich die ganze Zeit Notizen gemacht hatte, unruhig wurde und offenbar etwas fragen wollte. Ich bedeutete ihm, damit zu warten und Melissa nicht zu unterbrechen.
"Statt dessen klingelte es an der Tür", fuhr sie fort. "Draußen stand Frau Tietze-Mühlberger und fragte, ob sie mich sprechen dürfte. Wie ich schon erzählt habe, zögerte ich erst ein bisschen, weil ich doch jeden Moment mit dem Anruf meines Adoptivvaters rechnete. Aber dann bat ich sie herein und fragte gleich, ob wir uns in den Garten setzen wollen. Mein Wohnzimmer ist immer noch nicht fertig eingerichtet und draußen war die Luft angenehmer. Sie stimmte sofort zu und war richtig begeistert von dem Garten."
Diese Begeisterung konnte ich gut nachvollziehen. Erst vor ein paar Tagen hatte mich Melissa aufgefordert, mir ihr blühendes Zimmer, wie sie es nannte, anzusehen. Auch hinter dem Haus, wo sich die Terrasse aus Natursteinen befand, gab es keinen intakten Zaun mehr, dafür aber ein undurchdringliches Pflanzendickicht, das überwiegend aus Wildrosen bestand. Jetzt standen die Rosen in voller Blüte. Das Schloss von Dornröschen konnte nicht schöner ausgesehen haben als dieser kleine, verwunschene Garten, in dem sich nun offenbar ein Drama abgespielt hatte. Melissa berichtete wie Frau Tietze-Mühlberger auf der Terrasse Platz genommen hatte. Auf ihre Frage, was sie gern trinken wolle, hatte sie sich für den kalten Tee entschieden, der bereits in der Karaffe auf dem Gartentisch bereit stand.
"Ich wollte gerade ein zweites Glas holen gehen, als das Telefon klingelte. Zum Glück war das Glas auf dem Tisch noch unberührt, so dass ich es ihr anbieten konnte. Sie sagte, ich solle nur telefonieren gehen, sie käme schon zurecht. Sie hat sich den Tee dann selbst eingegossen, während ich schnell ins Haus gelaufen bin."
Johannes schrieb die ganze Zeit, ihm war anzumerken, wie sehr ihm einige Fragen unter den Nägeln brannten, doch er hielt sich damit zurück und unterbrach Melissa nicht.
"Am Telefon war nicht mein Adoptivvater, sondern meine Vermieterin Frau Steffen", fuhr sie fort. "Sie wollte wissen, wer da bei mir zu Besuch ist und wie gut ich die Frau kennen würde. Ich habe versucht, sie schnell zu beruhigen, aber das war nicht so einfach. Sie hatte wieder einen bösen Brief vom Neffen ihres verstorbenen Lebensgefährten erhalten und musste mir in aller Ausführlichkeit darüber berichten. Ein paar Mal habe ich versucht, das Gespräch zu beenden, aber sie ging nicht darauf ein und redete immer weiter. Ich stand wie auf glühenden Kohlen, weil ich doch ein anderes Gespräch erwartet hatte. Als sie dann endlich aufgelegt hatte, bin ich in die Küche gegangen, um mir auch ein Glas zu holen und dann zurück auf die Terrasse. Frau Tietze-Mühlberger atmete schwer und Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Sie sagte, ihr wäre nicht gut und es liege wohl am Wetter. Ich habe uns beiden Tee eingegossen und ihr einen Stuhl herangezogen, damit sie die Beine hochlegen konnte. Aber es wurde nicht besser. Plötzlich griff sie sich an den Hals und man sah das Weiße in ihren Augen. Ich bin furchtbar erschrocken, das erinnerte mich an ..."
Melissa vollendete den Satz nicht, doch ich wusste auch so, was sie sagen wollte. Sie hatte an den Tod ihrer Freundin Julia denken müssen.
"Ich bin aufgesprungen und wollte ins Haus laufen, um den Notarzt zu rufen, aber mir wurde auf einmal schwarz vor Augen. Das passiert mir ja leider öfter. Nur hat die Ohnmacht diesmal viel länger angehalten, gut eine Stunde, schätze ich. Im Fallen muss ich mir den Kopf gestoßen haben, wahrscheinlich am Türrahmen. Als ich wieder zu mir kam, wusste ich erst einmal überhaupt nicht, was passiert war. Aber dann sah ich Frau Tietze-Mühlberger ganz schlaff und reglos auf dem Stuhl hängen. Da bin ich rein und habe den Notruf gewählt."
Melissa war um noch einen Schein blasser geworden. Man merkte, wie sehr die Erinnerung an das Geschehen sie mitnahm. Doch sie redete tapfer weiter.
"Der Krankenwagen kam ziemlich schnell und von da an habe ich alles gar nicht mehr so richtig mitbekommen. Sie haben wohl gleich noch einen zweiten Wagen und den Notarzt angefordert. Da waren auf einmal viele Menschen. Ein Sanitäter
Weitere Kostenlose Bücher