Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
Legasthenie."
"Der Schreiber dieser Zeilen kann sich auch verstellt haben, damit er nicht erraten wird."
"So oder so, ich kann nichts damit anfangen."
"Wir sollten es trotzdem Gernot übergeben", sagte Ruth, "er interessiert sich prinzipiell für alles, was irgendeinen Bezug zum Fall aufweist. Jetzt erzähle erst einmal, was eure Exkursion nach Gröbeneck ergeben hat."
Ich erzählte Ruth alles, was ich über Melissas Familie erfahren hatte, sie kam zu den gleichen Schlussfolgerungen wie ich. "Vermutlich war es tatsächlich so, dass nach dem unerwarteten Tod ihres Mannes die Mutter mit den Kindern verunglückte. Sie wird in schlechter Verfassung gewesen sein, das kann den Unfall begünstigt haben. Aber", unterbrach sich Ruth, "gibt es denn in Melissas Krankenakten keinen Hinweis darauf? Du hast doch seinerzeit alles angefordert."
"Es waren nur aktuelle Berichte über ihren kurz zurück liegenden Klinikaufenthalt. Darin gab es keinen Hinweis auf einen früheren Unfall oder irgendwelche Verletzungen. Allerdings hat mir Melissa erzählt, dass sie damals von einem Krankenhaus aus ins Waisenhaus gekommen sei."
Ruth dachte kurz nach. "Das ist jetzt 14 Jahre her. Krankenhäuser haben die Pflicht, Akten 10 Jahre lang aufzubewahren. Nicht in jedem Falle werden Unterlagen sofort nach Ablauf dieser Frist vernichtet. Theoretisch könnte also noch etwas zu dem Fall zu finden sein. Ein Problem besteht darin, nicht zu wissen, an welche Klinik wir uns wenden müssen. Der Unfall muss sich ja nicht zwangsläufig in der Umgebung von Gröbeneck ereignet haben. Da man die Verletzten sicher in das nächstgelegene Krankenhaus eingeliefert hat, kann das überall gewesen sein."
Trotz dieser Einschränkung fand ich Ruths Hinweis sehr nützlich. Wieso war ich nicht schon eher darauf gekommen? Gleich nachher würde ich die Gröbeneck am nächsten gelegenen Kliniken anschreiben, den Versuch war es auf jeden Fall wert.
Wir sprachen dann auch noch über den Hexenturm und seine mögliche Verbindung zu Melissas Ängsten. "Sie muss nicht einmal etwas mit eigenen Augen gesehen haben", meinte Ruth. "Eine gruselige Erzählung über Geschehnisse an diesem Turm kann ihre kindliche Fantasie angeregt und ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt haben. Unser Gedächtnis unterscheidet unter Hypnose bekanntlich nicht klar zwischen selbst Erlebtem und anderweitig Erfahrenem. Das macht ja die Einschätzung solcher Aussagen so schwierig."
Ich stimmte ihr zwar prinzipiell zu, vermutete in diesem Falle aber doch, dass mehr dahinter stecken musste. Melissas bisherige Erinnerungen hatten sich als bemerkenswert präzise erwiesen. Ihre Reaktion auf die Vision des Turmes hatte an Heftigkeit alles Bisherige deutlich übertroffen. Ich war gespannt, wie sie auf die Fotos, die Tobias vom Turm gemacht hatte, reagieren würde.
Wir trafen uns am Nachmittag bei mir in der Praxis. Ich berichtete Melissa zunächst über die positiven Aspekte unseres Besuchs in Gröbeneck, hob hervor, dass ihr Vater ein sehr begabter Maler gewesen und im Ort nicht vergessen sei. Die Existenz einiger seiner Bilder im Heimatmuseum versetzte Melissa erwartungsgemäß in helle Aufregung. "Wenn ich mich doch endlich wieder frei bewegen dürfte", jammerte sie. "Ich habe schließlich nichts getan."
Ich tröstete sie damit, dass das Museum im Moment ohnehin geschlossen sei und sie also nichts versäumen würde.
Dann zeigte ich ihr die Fotos des Hexenturms. Ihre Reaktion darauf fiel anders aus als ich erwartet hatte. Sie betrachtete die Fotos aufmerksam, jedoch ohne besondere Regung. "Er sieht unheimlich aus", sagte sie dann, "aber ich kann mich nicht wirklich an ihn erinnern. Der Turm, den ich manchmal vor mir sehe, ist irgendwie anders. Da müssten doch auch ein Hof und ein Haus sein, die sind hier nicht zu sehen."
"Es gibt da schon ein Haus, aber das war ein Stückchen entfernt und wurde von Bäumen verdeckt. Wir sind leider nicht näher heran gekommen, das Grundstück war abgesperrt."
"Vielleicht muss ich es wirklich mit eigenen Augen sehen", meinte Melissa nachdenklich. "Es ist sehr lieb von Tobias und dir, dass ihr dort gewesen seid, und vor allem auch das Grab besucht habt."
Als ich am Nachmittag meinen letzten Patienten verabschiedet hatte, stand plötzlich Tobias in der Diele. "Darf ich dich zum Essen einladen?", fragte er fröhlich grinsend und ich stimmte freudig zu. Wir gingen zum Italiener gleich um die Ecke und ich erzählte ihm, wie Melissa auf die Fotos reagiert hatte. Den
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