Eine tödliche Erinnerung (German Edition)
Tobias bereits in aller Frühe den Stick vorbei. Ich bemühte mich, nicht zu zeigen, mit welcher Ungeduld ich darauf gewartet hatte. Mein Schlaf in der vergangenen Nacht war unruhig gewesen, weil meine Gedanken immer wieder um das eine Foto kreisten und um die Frage, ob ich mich vielleicht doch getäuscht hatte.
Kaum hatte Tobias sich verabschiedet, übertrug ich die Datei auf meinen Rechner und machte mich sofort an die Sichtung der Fotos. Da ich mich lediglich auf die in der Aula entstandenen Aufnahmen konzentrieren musste, kam ich zügig voran. Nach nur 20 Minuten hatte ich das entscheidende Bild gefunden. Ich zoomte das Gesicht der grauhaarigen Frau so nah wie möglich heran. Nun hatte ich keine Zweifel mehr: Diese mürrisch nach unten gezogenen Mundwinkel gehörten zu meiner rätselhaften Patientin. Es war eigentlich gar nicht erforderlich, dass ich zum Vergleich noch einmal die Website ihrer Firma in Gröbeneck aufrief und die Fotos verglich. Ich tat es trotzdem. Nun stand die Anwesenheit von Frau Brückner an jenem verhängnisvollen Mordtag auf Schloss Dahrenried fest. Doch ich konnte nicht wissen, ob sie wegen Melissa dort gewesen war, auch wenn es auf der Hand zu liegen schien. Auch ihr Auftauchen in meiner Praxis musste mit Melissa zu tun gehabt haben, sie stellte die einzige mögliche Verbindung zwischen den beiden Ereignissen dar. Aber musste sie deshalb etwas mit den Morden zu tun haben? Oder zumindest etwas darüber wissen? Eines stand fest: Solange ich nur vage Vermutungen hatte, durfte ich meine Schweigepflicht nicht brechen.
Ich würde also allein nach Gröbeneck fahren und möglichst herausfinden müssen, welches Interesse Frau Brückner an Melissa haben konnte. Heute war Freitag und in der kommenden Woche würde ich wieder normal arbeiten, da bleib mir für solche Erkundungen keine Zeit. An diesem Wochenende konnte ich auch nicht fahren, denn ich hatte Gernot Schlüter versprechen müssen, den Ort einstweilen nicht zu verlassen. Den fälligen Besuch bei meinen Eltern hatte ich verschoben. Sie hatten keine Ahnung von dem Brand, das würde ich ihnen später lieber persönlich erzählen. Nur dass meine Vermieterin zu ihrer Tochter nach Hamburg ziehen würde und ich auf Wohnungssuche war, wussten sie bereits. Also hoffte ich auf eine Gelegenheit am übernächsten Wochenende. Bis dahin würde ich mich in Geduld fassen müssen.
Mittags bekam ich einen Anruf von Tobias. Er wolle mir nur ein schönes Wochenende wünschen und mitteilen, dass er für ein paar Tage wegfahren müsse. Sobald er zurück sei, würde er sich bei mir melden. Mehr sagte er nicht. Ich verbrachte das Wochenende mit Arbeit und verschwendete endlich auch mal wieder ein paar Gedanken an meine vernachlässigte Dissertation. Am Montag sprachen mich mehrere Patienten voller Mitgefühl auf den Brand an. Immerhin erhielt ich dabei auch ein paar Hinweise auf leerstehende Wohnungen.
Tags darauf tauchte Tobias wieder bei mir auf und wollte mich dringend und am liebsten sofort sprechen. Er musste abwarten, bis ich den letzten Patienten verabschiedet hatte. Dann saßen wir uns in meinem Zimmer gegenüber.
Tobias wirkte nervös, er redete sehr schnell und sah mir dabei nicht in die Augen. Die Dringlichkeit, mit der er sprach hatte etwas Aufgesetztes. "Iris, es scheint eine Menge schief zu laufen, wir müssen unbedingt handeln", sagte er. "Es erinnert mich alles ganz fatal an die Situation vor drei Jahren. Auch da konzentrierten sich die Ermittlungen plötzlich auf Melissa und alle anderen Spuren ließ man einfach im Sande verlaufen. Jetzt scheint das gleiche Spiel von vorn zu beginnen. Man hat Melissa nach ihrem Alibi in der Brandnacht gefragt, das musst du dir einmal vorstellen! Natürlich hat sie keins, sie war um die Zeit allein in ihrer Wohnung. Dann haben die Beamten nochmal im Atelier rumgeschnüffelt und der eine hat die Bemerkung gemacht, dass da eine Menge Brandbeschleuniger rumstehen würden. Melissa ist Malerin! Sie braucht Verdünnungen für ihre Farben und zum Reinigen der Pinsel, und zwar in großen Mengen. Schließlich malt sie ja sehr viel."
Ich fand es auch seltsam, dass man Melissa in dieser Art befragt hatte. Doch die Aufregung von Tobias erschien mir übertrieben. "Das ist sicher nur Routine und hat weiter nichts zu bedeuten", sagte ich. Aber Tobias regte sich nur noch mehr auf. "Mit solcher Routine verplempern die ihre Zeit und lassen den Täter in aller Ruhe weitermachen. Überhaupt nichts haben sie bisher
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