Eine unbeliebte Frau
auf dem großen Gelände war streng geregelt; es gab Einbahnstraßen und Stoppschilder, Ampeln und Haltezonen. Bodenstein war beeindruckt. Natürlich hatte er schon häufig die LKW mit dem hellblau-weißen Schriftzug »Friedhelm Döring – Frisch und frostig« oder »Friedhelm Döring – wir transportieren alles just in time« auf den Straßen gesehen, aber er hatte ihnen nie weitere Beachtung geschenkt, weil es dafür keine Veranlassung gegeben hatte. Als Anna Lena Döring am Morgen gesagt hatte, sie arbeite in der Firma ihres Mannes, hatteer nicht geahnt, was für ein Imperium sich hinter dem Wort »Firma« verbarg.
»Er kann einem nicht in die Augen gucken«, sagte Pia, »und ich glaube ihm nicht, dass sein Verhältnis zu Isabel rein geschäftlicher Natur war. Aber wenn wir in diesem Reitstall noch ein bisschen herumbohren, dann haben wir mindestens zwanzig Leute, die allesamt ein Motiv hatten, Isabel um die Ecke zu bringen.«
»Ein Motiv vielleicht«, Bodenstein stellte fest, dass sie quasi durch den Lieferanteneingang gekommen waren. Der Haupteingang befand sich auf der anderen Seite, und man hatte alles getan, um Besuch und Kundschaft zu imponieren. »Aber ist von denen wirklich einer fähig, so einen Mord zu begehen? Es gehört schon etwas dazu, jemandem eine tödliche Spritze zu verpassen, eine Leiche in stockdunkler Nacht auf einen Turm zu schleppen und hinunterzustoßen.«
Er stellte sein Auto auf einem der Gästeparkplätze an einer kreisrunden Rasenfläche mit einem Springbrunnen in der Mitte ab. Sie stiegen aus und gingen zu dem modernen vierstöckigen Gebäude aus verspiegeltem Glas und Stahl. In Goldlettern prangte der Firmenname über der Eingangstür, daneben befanden sich zahlreiche weitere Firmenschilder. Döring besaß zig Unterfirmen, die alle in diesem Gebäude beherbergt waren. In der pompösen Eingangshalle, die mit schwarzem Granit ausgelegt war, erwartete sie eine junge Frau mit einem strahlenden Lächeln hinter einem meterlangen Empfangstresen. Bodenstein stellte sich und seine Kollegin der Empfangsdame vor und bat um einen Termin bei Herrn Döring. Die Dame tippte mit acht Zentimeter langen künstlichen Fingernägeln eine Nummer ins Telefon, ohne den Blick von Bodenstein abzuwenden.
»Hallo, Frau Schneider«, flötete sie, »hier sind eine Dame und ein Herr von der Kriminalpolizei, die zum Chef wollen.«
Sie lauschte einen Moment, dann wurde ihr Lächeln bedauernd, schließlich legte sie auf.
»Herr Döring ist in einer Besprechung«, sie machte ein Gesicht, als sei eine Katastrophe über Mitteleuropa hereingebrochen. »Sie möchten sich ein paar Minuten gedulden.«
»Vielen Dank«, Bodenstein musste über so viel Schauspielerei beinahe lachen, »wir haben Zeit.«
»Sie können sich einen Kaffee nehmen«, die Empfangsdame schien wieder glücklich, »da drüben ist die Espressomaschine. Soll ich Ihnen zeigen, wie sie funktioniert?«
»Danke, das kriegen wir schon hin«, erwiderte Bodenstein.
»Mein Gott«, murmelte Pia und rollte die Augen, »die könnte ja direkt die Zwillingsschwester von Frau Kampmann sein. Dieses übertriebene Getue! Und Sie müssten mal sehen, wie sich die Frau in den letzten zwei Jahren verwandelt hat.«
Sie blieben neben der überdimensionalen Espressomaschine stehen. »Verwandelt?«
»Vor anderthalb Jahren war Frau Kampmann eine durchschnittlich hübsche, aber unauffällige Frau. Heute sieht sie aus wie Barbie nach zehn Botox-Behandlungen. Weißblonde Haare, dicke Schminke, abgehungert, mit falschen Fingernägeln und mit Schmuck behängt wie ein Pfingstochse.«
»Und was, denken Sie, hat diese Frau veranlasst, sich so zu verändern?«, fragte Bodenstein.
»Sie wollte so aussehen wie Isabel Kerstner«, Pia zuckte die Schultern, »weil sie vielleicht bemerkte, wie ihr Mann auf sie abfuhr.«
Nach dem, was Anna Lena Döring über ihren Mann erzählt hatte, erwartete Bodenstein einen groben hemdsärmeligenTypen mit Schlägervisage und Gorillafäusten. Friedhelm Döring erwies sich aber zu seiner Überraschung als ein schlanker, grauhaariger Mann Anfang fünfzig, mit einem markanten, etwas verlebten Gesicht, der mit seinem gestreiften Hemd und dem gutgeschnittenen Anzug auf den ersten Blick den Eindruck eines Bankers aus der City erweckte. Er erwartete sie an der Tür seines riesigen Büros, dessen gewaltige Dimensionen dazu angetan waren, einen Menschen einzuschüchtern. Bodenstein konnte sich leicht vorstellen, wie sich ein einfacher LKW-Fahrer
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