Eine ungezaehmte Lady
Licht, um einen großen, ihr vertrauten Felsen auszumachen. Lady bog vom Weg ab. Als sie sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte, erschwerten ihr nasse Zweige und Schlingpflanzen das Vorwärtskommen. Sie ritt weiter, bis sie sich nicht mehr sicher war, ob die Richtung stimmte. Inzwischen war es so dunkel, dass sie kaum noch die Hand vor Augen erkennen konnte, und bald folgte sie nur noch ihrem Instinkt. Doch zumindest befanden sie sich nicht mehr auf dem Hauptweg und schwebten deshalb zum ersten Mal seit ihrer Flucht aus Bend nicht mehr in unmittelbarer Gefahr.
Sie hielt inne, blickte sich um und versuchte, trotz des starken Regens etwas zu sehen.
»Verirrt?«, fragte Rafe und zügelte sein Pferd neben ihr.
»Ich brauche Licht. Ich warte auf den nächsten Blitz.«
»Hoffentlich ist das hier kein neuer Trick von dir. Oder versuchst du, mich irgendwo in diesem Unwetter abzuhängen?«
Als Lady zu ihm hinüberschaute, spürte sie ihn mehr, als sie ihn sehen konnte. Ihr wurde klar, dass es ihm als erfahrenem und ausgebildetem Deputy Marshal und auch als Mann bestimmt gegen den Strich ging, ihr so blind vertrauen zu müssen. Aber warum tat er das überhaupt? Seit ihrer ersten Begegnung hatte sie ihm nichts als Ärger eingebracht. Wahrscheinlich weil er sie noch immer verhaften wollte. Weshalb also half sie ihm weiter? Vermutlich aus Sicherheitsgründen und weil sie zu zweit bessere Chancen hatten. Und auch wegen ihrer Schuldgefühle. Schließlich hatte sie ihn in diese missliche Lage gebracht, und ihr Gewissen würde erst ruhen, wenn er in Sicherheit war und sich allein durchschlagen konnte. Dann würde sie wieder frei sein, so frei, wie das mit den Bildern von Tod und Zerstörung, die sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten, möglich war.
Als es wieder blitzte, tauchte im grellweißen Lichtschein ein Ritzer auf, den sie in eine Baumrinde geschnitten hatte.
»Hier entlang.« Sie wies nach Osten.
»Hoffentlich ist es nicht mehr weit. Ich habe schon Wasser in den Stiefeln.«
»Gleich sind wir da.«
Sie lenkte Jipsey ins Unterholz, zog Äste zurück und hielt sie fest, bis Rafe von hinten danach griff. Wenn sie losgelassen hätte, hätte das dicke Geäst ihn wohl aus dem Sattel gefegt. Meistens musste sie sich tief über Jipseys Hals beugen, um nicht selbst getroffen zu werden. Es war zwar zeitraubend, sich so einen Weg durchs Dickicht zu bahnen, allerdings auch die beste Methode, um unbemerkt zu bleiben. Dank des Wolkenbruchs, der ihre Spuren verwischte, und des Querfeldeinritts würde sie sicher niemand finden.
Angestrengt spähte sie durch den glitzernden Regenschleier, das dichte Grün und die immer wieder von Blitzen erhellte Dunkelheit, bis sie endlich die silbriggraue Holzwand der verlassenen Postkutschenstation erkannte, wo sie ihr Versteck eingerichtet hatte. Vor Erleichterung wurden ihr die Knie weich.
Grinsend drehte sie sich um und zeigte auf das zwischen dem vor neugierigen Blicken schützenden Gebüsch kaum auszumachende Gebäude.
Rafe schaute sich in alle Richtungen um. »Ist es hier sicher?«
»Wir gehen besser bewaffnet rein, falls Bären sich dort eingenistet haben.« Sie betrat nie eines ihrer Verstecke, ohne den Colt Kaliber .44 im Anschlag zu haben.
Er nickte. »Ich gehe zuerst.«
»Ich komme mit.« Sie hoffte, dass alles noch so war, wie sie es zurückgelassen hatte, vorbereitet, um sich zu verkriechen, bis der Sturm, der sie verfolgte, sich verzogen und vergessen hatte, dass es sie gab.
»Warte, einer von uns muss hierbleiben, falls es Schwierigkeiten gibt.« Als er abstieg, stand er knöcheltief im Wasser.
»Ich gehe, ich kenne mich hier aus.« Sie glitt ebenfalls aus dem Sattel.
»Lass mich auch etwas beitragen.« Er trat ein paar Schritte vor. Ein Blitz zuckte. »Ist das da hinten ein Stall?«
»Verfallen, aber benutzbar.«
Er warf ihr die Zügel zu und zückte den Peacemaker. »Kümmere dich um die Pferde. Ich schaue mir das Haus an.«
Sie fing die Zügel auf. Als Erschöpfung und Schmerzen wie eine gewaltige Welle über sie hinwegbrandeten, kostete es sie alle Willenskraft, sie zurückzudrängen. Da sie nun hoffentlich in Sicherheit waren, wollte sie sich endlich ausruhen und wieder zu Atem kommen.
Dennoch behielt sie Rafe im Auge, als dieser auf die Tür des Gebäudes zusteuerte.
10
Rafe war froh, nicht mehr im Sattel zu sitzen und endlich etwas unternehmen zu können. Er hatte es satt, Lady zu folgen und von ihr abhängig zu sein, ständig in dem
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