Eine verlockende Braut: Roman (German Edition)
angsteinflößend, allein in diesem Wald zu sein. Aber es war noch viel schrecklicher, sich vorzustellen, dass sie am Ende doch nicht so allein hier war.
War der Nebel auch in der Nacht, als Jamies Eltern gestorben waren, so trügerisch gewesen? War jemand ohne Vorwarnung zu ihnen gestoßen und hatte sie überrascht? Oder war man ihnen in den Schatten verborgen gefolgt, hatte sie wie Tiere gejagt, bis ihr Atem so schnell ging, dass ihre Lungen schmerzten? Ihr Entsetzen wäre mit jedem verzweifelten Schritt gewachsen, bis sie sich schließlich umdrehten und die tödliche Pistole in der Hand eines gnadenlosen Fremden erblickten? Oder, schlimmer noch, in der Hand von jemandem, dem sie vertraut hatten, den sie vielleicht gar geliebt hatten? Jemand, der entschlossen gewesen war, sie dafür zu bestrafen, dass sie es gewagt hatten zu glauben, ihre Liebe könne Jahrhunderte des Hasses überwinden.
Beinahe als wäre sie von ihren trostlosen Gedanken heraufbeschworen, schien sich eine verschwommene Gestalt von den hellen Birkenstämmen direkt vor ihr zu lösen. War es nur eine weitere Nebelschwade oder eine Frau in einem wallenden weißen Gewand? Emma blinzelte, um klarer sehen zu können, aber die gespenstische Gestalt kam weiter auf sie zugeschwebt, den Mund weit aufgerissen, wie auf ewig erstarrt in einem traurigen Schrei.
Ein durchbohrendes Geheul, das nur zu echt war, erhob sich praktisch an ihrem Ohr. Sie wirbelte herum und blickte geradewegs in ein Paar bösartiger gelber Augen, die sie aus der Dunkelheit anglühten.
Ein Schrei entrang sich ihrer Kehle. Sie wirbelte herum und begann wegzulaufen, rannte blindlings in den Nebel.
Jamie hasste diesen Ort.
Er hätte liebend gern seinen Hals und den seiner Männer riskiert und die Pferde in einer wilden Jagd durch den Wald gehetzt, nur um nicht die Nacht hier verbringen zu müssen. Aber er war nicht willens gewesen, Emmas schlanken Hals irgendeiner Gefahr auszusetzen.
Der war für ihn viel zu wertvoll.
Er bog einen niedrig hängenden Kiefernzweig zur Seite, wusste genau, wohin ihn seine entschlossenen Schritte führten. Weder die grüblerischen Schatten noch die Nebelschwaden verlangsamten sein Tempo. Er hätte sein Ziel mit verbundenen Augen in einer mondlosen Nacht finden können. Vorhin war er schon halb da gewesen, bevor er sich dazu gezwungen hatte, umzudrehen und ins Lager zurückzukehren.
Vorhin hatte er noch nicht einen halben Krug Whisky intus gehabt, der ihm ein Loch in den Magen zu brennen drohte. Und vorhin hatten ihm auch nicht Emmas unerschrockene Fragen im Kopf widergehallt. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken, nicht hier an diesem Ort, und noch weniger mit Emma, wenn sie nur ein paar Schritte entfernt von ihm auf ihrem Lager schlummerte, so verschlafen und warm und bereit für ihn, wie sie es in Muiras Bett gewesen war.
Seine langen Schritte wurden nicht langsamer, bis er am unteren Ende eines steilen Abhangs angekommen war und aus dem Schutz der Bäume trat. Hier hing der Nebel dicht über dem Boden. Der Mondschein fiel sacht darauf und tauchte die ganze Schlucht in ein unheimliches Licht. Es war der perfekte Treffpunkt für ein Liebespaar.
Oder zu sterben.
Jamie ging weiter. Sein Großvater hatte ihn zum ersten Mal hergebracht, als er noch ein Kind war. Er hatte sich auf den Boden gekniet und mit den Fingern das Gras berührt, sein wettergegerbtes Gesicht vor Schmerz verzogen, als er von der Nacht erzählte, in der die Leichen von Jamies Eltern gefunden worden waren – und so im Detail, dass Jamie fast das Gefühl hatte, selbst dabei gewesen zu sein. Fast konnte er sie auf dem Rücken liegen sehen, die toten Augen offen, die blutbefleckten Hände zueinander ausgestreckt, aber sich nicht berührend.
Jamie hockte sich hin und berührte mit seinen eigenen Fingern das Gras. Man sollte meinen, dass siebenundzwanzig Jahre schutzlos der Witterung ausgesetzt zu sein, dass Sonne, Wind, Regen und Schnee alle Spuren der Tragödie verwischt haben müssten. Dass kein Hinweis auf Trauer oder Verlust mehr in der Luft läge.
Emma war mutig genug gewesen, sich ihm zu stellen und die Wahrheit zu fordern, doch er hatte ihr nur Lügen geboten. Er glaubte an Geister. Wie auch nicht, wenn sie ihn sein ganzes Leben lang verfolgten?
Trotz dieses Eingeständnisses verspürte er keine Furcht, nur grimmige Entschlossenheit. Weil er wusste, dieser Wald war nicht verflucht. Er war es. Es waren nicht seine Eltern, die dazu verdammt waren, über diesen Berg zu wandern,
Weitere Kostenlose Bücher