Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
verhasstes Gefühl von Schwäche. Sie ging über den Flur, um sich etwas Neues zum Anziehen zu holen.
Vince lag in grauen Jogginghosen und einem schwarzen T-Shirt auf dem Bett und las. Er blickte von seinem Buch auf, die Brille auf der Nasenspitze. Der Fernseher auf der Kommode flimmerte unbeachtet vor sich hin.
Anne ging zu ihrem Schrank und zog ein frisches FBI -T-Shirt an, dann schlüpfte sie neben ihm ins Bett, kuschelte ihren Kopf an seine Schulter und legte einen Arm über seine breite Brust.
»Hallo, Liebling«, flüsterte er und küsste sie auf den Scheitel. Er legte sein Buch zur Seite und schloss sie in die Arme. Anne wusste, dass er das Zittern in ihr spüren konnte, ein Nachhall des abebbenden Adrenalins. »Hast du schlecht geträumt?«, fragte er leise.
Anne nickte. »Ja, aber jetzt ist alles wieder gut.«
»Mein armer Liebling.«
Tränen traten ihr in die Augen. »Ich hasse diese Träume.«
»Ich weiß.«
»Sie werden nie aufhören.«
Sie wünschte diese Alpträume Peter Crane an den Hals, der in einer Zelle im Bezirksgefängnis saß. Wobei das Schreckliche war, dass ihre Alpträume seine Sexphantasien wären.
Vince streichelte ihren Rücken und küsste sie auf die Stirn.
»Was liest du?«, fragte Anne.
»Ein Buch über dissoziative Störungen. Und du?«, fragte er. »Kann nichts Spannendes gewesen sein, wenn du darüber eingeschlafen bist.«
»Kinder als Opfer und Zeugen.«
»Wir sind wirklich ein aufregendes Paar«, witzelte er.
Anne musste lächeln. »Davor habe ich von einer Prinzessin gelesen, die eine Elfe werden wollte.«
»Ach, das kenne ich. Einmal angefangen, kann man gar nicht mehr aufhören«, sagte er. »Hast du einen netten Abend gehabt?«
»Ja, aber wir haben dich vermisst.«
»Das ist gut … Und wie geht es Haley?«
»Sie fragt nach ihrer Mutter.«
»Was antwortest du ihr?«
»Was ich ihr vorher schon geantwortet habe – dass ihre Mutter schwer verletzt wurde und sie nicht besuchen kann«, sagte Anne. »Ich möchte ihr die schreckliche Wahrheit noch einige Zeit ersparen, und gleichzeitig finde ich es schlimm, sie zu belügen. Sie wird immer größere Erwartungen aufbauen und sich immer mehr darauf freuen, dass Mommy zurückkommt. Das ist eigentlich grausam.«
»Eine schwere Entscheidung«, sagte Vince. »Du bist natürlich die Kinderexpertin, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Kinder lieber angelogen werden als Erwachsene.«
Anne sah ihn an. »Und was ist mit dem Christkind und dem Osterhasen?«
»Das ist etwas anderes. Denen kommen sie selbst auf die Spur, sobald sie alt genug sind. Du kannst aber nicht warten, bis Haley geistig so weit ist, um ihr zu sagen, dass ihre Mutter tot ist.«
»Ich weiß. Und ich weiß auch, dass der Tod in Haleys Alter etwas sehr Abstraktes ist. Die Endgültigkeit dessen wird sie wahrscheinlich nicht verstehen. Das ist ein Segen. Aber nachdem sie ja bereits so stark traumatisiert wurde …«
»Hat sie über das, was geschehen ist, gesprochen?«
»Du meinst, ob sie den Namen des Mörders genannt hat?«, fragte Anne. »Nein. Wenn sie Glück hat, wird sie sich nie an diesen Abend erinnern.«
Kaum hatte sie das gesagt, ertönte ein gellender Schrei aus dem Zimmer gegenüber. Haley saß in ihrem Bett und schrie wie an dem ersten Abend, als Anne zu ihr ins Krankenhaus gekommen war. Ein grauenvolles Bild hielt sie gefangen, von dem sie sich nicht befreien konnte.
»Haley!«, sagte Anne, setzte sich auf die Bettkante und fasste das Mädchen an den schmalen Schultern. »Haley, ich bin’s, Anne. Es ist alles gut, meine Kleine. Du bist in Sicherheit.«
»Mommy! Mommy! Mommy!«, rief Haley, und dann folgte wieder ein Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Das eben war wohl Wunschdenken gewesen, dachte Anne. »Haley, du bist in Sicherheit«, wiederholte sie und schimpfte sich im Stillen eine Lügnerin. Sie spürte, wie das Bett unter Vinces Gewicht nachgab, als er sich neben sie setzte. Er legte seine Arme um sie beide und hielt sie fest, die Wange gegen Annes Wange gedrückt.
Nach und nach verwandelten sich die Schreie von Haley in Schluchzer und die Schluchzer in Schniefen und Schluckauf. Vince holte aus dem Badezimmer einen feuchten Waschlappen, um die Tränen wegzuwischen – die von Haley und die von Anne.
»Ich hab mich gefürchtet!«, rief Haley.
»Das weiß ich«, erwiderte Anne. »Aber du bist hier in Sicherheit, Schätzchen. Keiner kann dir wehtun.«
»Du hattest einen schlimmen Traum«, sagte Vince.
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