Eine Villa zum Verlieben: Roman (German Edition)
Waldemar Achternbeck entwickeln würde. Der Unbekannte nahm bereits viel zu viel Platz in ihrem Kopf ein. Würde sie sich nicht dauernd so alleine fühlen, hätte sie sich gar nicht erst auf eine Internetbekanntschaft eingelassen, das wusste sie. Die »Latte mielato«-Mail lag unbeantwortet in ihrem Posteingang. Sie würde der Schleieraster erst wieder schreiben, wenn es um eine Fachfrage ging. Und Ende Dezember würde das Blumenmeer sowieso seine Pforten schließen und die Korrespondenz ein Ende finden.
Seufzend begann Nina mit der letzten Schaufensterdekoration des Blumenmeers. In einer alten Dekokiste hatte sie einen langen weißen Wattestrang gefunden, den sie auf den Tresen legte und in mehrere gleich lange Stücke zerteilte. Anschließend knüllte Nina die Wattefetzen zu faustgroßen Schneebällen zusammen und befestigte sie geschickt an goldglänzenden Bändern. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk. Von der Schaufensterdecke des Blumenmeers schien es riesige, plüschige Schneeflocken zu regnen, und endlich kam ein wenig Weihnachtsstimmung auf. Wurde langsam auch mal Zeit, schließlich hatten sie schon Ende November.
»Schön machst du das«, ertönte eine männliche Stimme hinter ihr, und kalte Lippen pressten sich auf ihren Nacken. Nina zuckte zusammen. Für einen kurzen Moment hatte sie befürchtet, dass Gerald noch immer keine Ruhe gab und sie an ihrem Arbeitsplatz zur Rede stellen wollte.
Zu ihrer großen Erleichterung war es jedoch Willem, der Geschenkartikellieferant des Blumenmeers. Willem und Nina kannten sich seit vielen Jahren und trafen sich zirka viermal im Jahr: zu Weihnachten, Ostern, am Valentins- und am Muttertag, eben immer dann, wenn es galt, das Blumenmeer mit Extradeko und Geschenkmaterial auszustatten. In seinem riesigen Lkw hatte Willem alles, was das Dekorateursherz begehrte: wunderschöne Skulpturen, zierliche Vasen, Schalen, Töpfe und Kerzen.
»Hallo, meine Schöne«, begrüßte er Nina und zupfte ihr ein Stück Watte aus den Haaren.
»Hallo, Willem, wie geht’s dir?«
»Gut, wenn ich dich sehe«, antwortete er charmant. Gleich würde er Nina zum Essen einladen, wie immer, nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatte. Doch diesmal gab es ja gar nichts mehr zu ordern …
»Ich weiß, dass ihr zumacht, du brauchst mir also nichts zu sagen. Trotzdem würde ich dich gerne zum Mittagessen ausführen. Wollen wir zu Franco?«
Minuten später saßen sie bei Ninas Lieblingsitaliener und warteten auf ihr Essen. Zur Feier des Tages hatte Willem gegrillte Scampis und ein Glas Prosecco bestellt. Als Vorspeise gab es mit Risotto gefüllte Baby-Calamares.
Gedankenverloren starrte Nina aus dem Fenster zum Blumenmeer hinüber, wo sie nur noch einen Monat arbeiten würde. Auf der Straße herrschte Trubel, so typisch für Eimsbüttel. Nina fragte sich nicht zum ersten Mal, woher die vielen Leute die Zeit nahmen, mitten unter der Woche stundenlang in Cafés zu sitzen, Zeitung zu lesen, in kleinen Lädchen herumzustöbern oder in aller Seelenruhe die Straßen entlangzuschlendern. Natürlich wohnten hier besonders viele Mütter und Freiberufler, aber das allein erklärte die emsige Geschäftigkeit nicht. Wie hoch wohl der Anteil an Arbeitslosen war, die sich hier den Tag vertrieben, weil ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fiel?
Der alte Mann mit dem dunkelblauen Overall zum Beispiel, der jeden Morgen pünktlich um zehn Uhr bei Fernando und Maria saß und seinen Galão trank. Am späten Nachmittag kam er noch einmal vorbei, um sich ein kühles Sagres und einen portugiesischen Schnaps zu bestellen. Ganz offensichtlich war er schon in Rente. Warum trug er also weiterhin seine Arbeitskluft, so als könnte er jeden Moment zu einem »Einsatz« gerufen werden? Würde sich Nina auch irgendwann in den Reigen einsamer Seelen einreihen, die verwirrt und verloren durchs Viertel geisterten? Und würde sie dann ihre Gummistiefel tragen, für den Fall, dass sie plötzlich gebraucht wurde?
»Was ist denn los, du hörst mir ja gar nicht zu?«, unterbrach Willem ihre Gedanken und prostete ihr zu. »Auf dein neues Leben, wie immer es auch aussehen mag. Hast du schon Pläne?«
»Schön wär’s«, knurrte Nina und nippte etwas widerwillig an ihrem Prosecco. Eigentlich hasste sie es, mittags schon Alkohol zu trinken. Aber sie wollte Willem, der es ja nur gut meinte, nicht brüskieren.
»Willst du nicht bei mir anfangen?«, schlug er vor und zündete sich einen Zigarillo an. »Komm zu mir nach Holland. Du wirst
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