Eine Vorhaut klagt an
Eisenberg zuckte die Achseln und grinste. Mein Vater gestikulierte weiter, sie sollten oben an den Türen ziehen, und mein Bruder stupste mich an und verdrehte die Augen. Endlich langte der Kantor nach oben, zog an der Ecke, und die Tür schwang auf. Einige klatschten.
– Masel tow , rief Mr Pomerantz.
Schwanzlutscher , dachte ich.
Erneut begann der Kantor zu singen, wobei er sich den Gebetsschal wieder um die Schultern legte, und öffnete die zweite Tür des Schreins.
Und tatsächlich, man konnte alle Rollen sehen.
Nach dem Ende des Gottesdienstes stand mein Vater, anstatt von der Menge weg auf den Parkplatz zu streben, mit der übrigen Gemeinde unmittelbar vor den Türen. Ich stand bei ihm und wartete darauf, dass meine Mutter herauskam. Mein Vater hielt den Kopf erhoben, die Hände auf dem Rücken. Er wirkte stolz. Er wünschte einigen Nachbarn einen guten Schabbes ; sie erwiderten den Gruß nach anfänglicher Überraschung und gingen weiter, ohne auch nur ein Wort über den Schrein zu verlieren. Bald darauf erschien meine Mutter mit ihrer alten Freundin Mrs Pleeter.
– Du kannst dir gar nicht vorstellen, sagte meine Mutter gerade, – diese ganze Arbeit.
Mrs Pleeter nickte, als die beiden herankamen.
– Du bist bestimmt ganz stolz, sagte sie zu mir.
Ich vergrub die Hände in den Taschen und zuckte die Achseln. Mein Vater machte das Gleiche. Mrs Pleeter beugte sich vor und richtete mir die Krawatte.
– Na, solltest du jedenfalls, sagte sie. – Du hast einen sehr berühmten Onkel, hast du das gewusst?
Meine Mutter strahlte.
– Eigentlich, verbesserte sie Mrs Pleeter, – hat er zwei berühmte Onkel.
– Jam, bam, biddy-biddy bam, sagte mein Vater.
Die Beckers sagten: – Gut Schabbes , ebenso die Baums und die Frankels, doch bislang hatte noch niemand den Schrein erwähnt. Schließlich kam Mr Pomerantz, gab meinem Vater die Hand und sagte: – Schöne Arbeit. Hat wohl ein Weilchen gedauert, nehme ich an.
Mein Vater lächelte und zuckte die Achseln. – Nischt geferlech , sagte er auf Jiddisch. Nicht so schlimm.
– Die Türen, fuhr Mr Pomerantz lächelnd fort. – Vielleicht müssten die Kanten noch ein Schtikl geschliffen werden?
Mein Vater lächelte zurück. – Ich schleif dir gleich die Kanten, sagte er durch die Zähne.
Mrs Borgen kam heraus, küsste meine Mutter auf die Wange und sagte, wie sehr ihr das Buch meines Onkels gefalle. Das Buch hieß Ein Rosenbett . Es war ein Leitfaden für die glückliche Ehe.
– Jam, bam, biddy-biddy bam, sagte mein Vater.
Er ging zum Ende der Synagogenauffahrt.
– Er geht, sagte ich zu meiner Mutter.
– Von allen Büchern meines Bruders, sagte meine Mutter gerade zu Mrs Borgen, – ist es mir das liebste.
– Er geht …
– Ist ja gut, sagte meine Mutter und tätschelte mich auf den Rücken. – Geh nur. Geh.
Verfluchter Mist , dachte ich.
Wir gingen lange, ohne ein Wort zu sagen.
– Was ist denn das für ein dummer Rabbi, der keine Tür aufmachen kann?, sagte ich schließlich.
– Pass auf, was du sagst, sagte er.
– Was hab ich denn gesagt?
– Pass einfach auf.
– Ist Eiche kräftiger als Ahorn?
Den Rest des Weges schwiegen wir.
Etwas war passiert. Vielleicht aber auch nichts. Vielleicht sieht alles einfach nur besser aus, wenn man vier Jahre alt ist. Der Levite in mir zuckte die Achseln; es war ihm egal.
Am Montagmorgen war Avrumi ein anderer Junge. Er passte im Unterricht auf, und wenn er auch nicht immer die Antworten wusste, schoss er doch nicht mehr mit Spuckekugeln oder kritzelte auf die Ränder seines Talmuds Karikaturen. Außerhalb des Unterrichts aber wirkte er vernichtet. Er ging allein durch die Flure, den Kopf gesenkt, die Hände in den Taschen. Beim Mittagessen saß er allein. Danach mussten wir einen unangekündigten Bibeltest schreiben. Ephraim bekam eine Achtundneunzig, ich eine Sechsundneunzig. Da wir die höchsten Punktzahlen erreicht hatten, ließ Rabbi Napier uns die Tests an die anderen austeilen. Als ich Avrumi seinen gab, sah ich, dass er nur eine Achtundsechzig geschafft hatte.
Plötzlich tat mir Avrumi leid. Vielleicht schämte er sich ja wegen seines schlechten Testergebnisses. Vielleicht war das Einzige, wofür ihm alle Anerkennung zollten, seine Größe und seine Kraft. Vielleicht überfiel er andere Jungen an der Treppe nur, weil mehr nicht von ihm erwartet wurde.
Auf dem Weg zum Bus hielt ich Avrumi an.
– Das war aber ein schwerer Test, sagte ich.
Avrumi schaute auf mich herab und ließ
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